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Generisches Maskulinum: Was ist das?

Konzeptuelle Unterspezifikation und Äußerungsbedeutung

Wenn mensch in die (sozialen) Medien schaut, dann scheint das wichtigste sprachpolitische Thema zu sein, ob geschlechtergerechte Sprache (das sogenannte ‚Gendern‘) verboten werden sollte oder nicht. Einzelne Bundesländer verbieten in bestimmten öffentlichen Bereichen die Verwendung geschlechtergerechter Sprache, Petitionen gegen ihre Verwendung werden gestartet, rechte Gruppen und Sprachvereine kritisieren lautstark und medienwirksam alle Formen der Verwendung geschlechtergerechten Sprache. Ein Argument ist in der Regel, dass wir geschlechtergerechte Sprache gar nicht brauchen würden, denn sie würde Sprache unnötig sexualisieren. Immerhin gäbe es doch das ‚generische Maskulinum‘, das alle Geschlechter mit meint.

Auf der Intersetseite des Verein für deutsche Sprache heißt es beispielsweise: “ „Der ‚Engel‘ ist per Definition geschlechtslos, ein ‚Schelm‘ kann genauso eine Frau sein wie eine ‚Dumpfbacke‘ ein Mann“, erklärt Krämer, „die vom Duden betriebene Zwangs-Sexualisierung der deutschen Sprache widerspricht den Regeln der Grammatik sowie dem allgemeinen Sprachgebrauch.“ Engel und Schelm werden als Beispiele für sogenannte generische Maskulina angeführt. Aber was steckt eigentlich hinter diesem Begriff?

In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff ‚generisches Maskulinum‘ gerne verwendet, aber häufig mit fehlender sprachwissenschaftlicher Präzision. Um aber entscheiden zu können, aber die Argumente bezüglich des ‚generischen Maskulinums‘ sprachwissenschaftlich haltbar sind oder nicht, muss dieser Begriff auch auf ein solides wissenschaftliches Fundament gestellt werden. Oft genug habe ich es in Diskussionen mit ‚Genderkritikern‘ erlebt, dass einerseits den Verfechter*innen der Verwendung geschlechtergerechter Sprache falsche Unterstellungen bzgl. des maskuliner Nomen gemacht werden („Ihr sagt, dass das Nomen Richter sich nur auf Männer beziehen kann“), anderseits treffen die Argumente, die zur Verteidigung eines ‚generischen Maskulinums‘ vorgebracht werden, oftmals das Thema nicht. Also: was ist denn das vermeintliche ‚generische Maskulinum‘ und was ist das damit verbundene Problem?

Unter einem ‚generischen Maskulinum‘ werden Nomen, die grammatikalisch maskulin sind (d.h., dem Genus ‚Maskulin‘ angehören) und ‚generisch‘ – also ganz generell – referieren, verstanden. Ein Beispiel ist Der Richter betrat den Raum. Das Nomen Richter ist maskulin. Das Genus eines Nomens erkennen wir im Deutschen nur in seinem grammatikalischen Verhalten. Relevant ist die sogenannte Kongruenz. Wenn wir die Nomen Richter, Katze, Fahrzeug vergleichen, dann sehen wir, dass sie unterschiedliche Endungen beim definiten Artikel (d-er Richter, d-ie Katze, d-as Fahrzeug) verlangen. Ebenso aber auch beim indefiniten Artikel und beim Adjektiv (ein groß-er Richter, ein-e groß-e Katze, ein groß-es Fahrzeug).

Genus ist eine grammatikalische Klassifikation von Nomen und eine Streitfrage ist, ob das Genus vom Sexus des nominalen Referenten abhängt. Mit ‚maskulin‘ ‚’feminin‘, ’neutrum’‘‘ beziehen wir uns auf unterschiedliche Werte einer grammatikalischen Kategorie. ‚Männlich‘ und ‚weiblich’‘‘ – wenn wir einfach einmal binär verbleiben – repräsentieren Werte der Kategorie Sexus. Das Sexus ist keine Eigenschaft des Nomens – anders als Genus –, sondern eine Eigenschaft des Referenten des Nomens. Der Referent ist der oder das, worauf sich das Nomen in der Welt bezieht. Nicht alle Dinge in der Welt haben ein Sexus. Ein Tisch ist weder männlich noch weiblich, ebenso eine Tasse. Entsprechend ist klar, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem nicht-vorhandenen Sexus der Referenten von Tisch und Tasse und dem Genus der Nomen geben kann. Sexus spielt nur für einen Teilbereich der Nomen eine Rolle und zwar für die Nomen, deren Referenten belebt sind. Aber auch da spielen nicht alle Nomen eine Rolle, denn das Geschlecht vieler Tiere ist und (sprachlich) vollkommen egal. Relevant ist der Teilbereich derjenigen Nomen, die sich auf Menschen, höhere Säugetiere und Nutztiere bezieht.

Richter ist nun ein Nomen, das menschliche Referenten hat. Die Annahme eines ‚generischen Maskulinums‘ sagt nun aus, dass Der Richter betritt den Raum bedeuten kann, dass auch ein weiblicher Richter den Raum betritt. Dem muss man nicht widersprechen. Die Frage ist nicht, was das Nomen Richter bedeutet, sondern wie es im Kontext verstanden wird.

In der Semantik, dem Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich mit Bedeutung auseinandersetzt, sagt man, dass das Nomen Richter ‚konzeptuell unterspezifiziert‘ ist. Es bedeutet: ‚eine Person, die den Richterberuf ausübt‘. Das ist soweit damit kompatibel, dass der Satz Der Richter betrat den Raum bedeuten kann, dass ein männlicher Richter oder eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Richterin ist dagegen ein Nomen mit einer spezifischeren Referenz, denn es bedeutet: ‚weibliche Person, die den Richterberuf ausübt‘. Damit referiert Richterin nur auf Frauen und der Satz Die Richterin betrat den Raum kann auch nur bedeuten, dass eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Dadurch, dass Richter konzeptuell unterspezifiziert ist – dieser Begriff ist gegenüber ‚generisch‘ zu bevorzugen, da adäquater – muss im Kontext interpretiert werden, wer der Referent von Richter sein kann. Wenn wir in einem Gerichtsaal sitzen und eine Person in schwarzer Robe durch die neben dem Richtertisch befindliche Tür den Raum betritt, dann ist klar, auf wen sich Richter bezieht: auf die Person, die gerade den Raum betrat. Wir besitzen in diesem Fall visuelle Evidenz, die es uns erlaubt, die Referenz des Nomens eindeutig zu bestimmten und damit die konzeptuelle Unterspezifikation aufzulösen. ‚Konzeptuelle Unterspezifikation‘ bedeutet also, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht vollkommen spezifiziert ist. Im Fall von Richter gibt es keine in der Bedeutung des Nomens verankerte Geschlechtsspezifikation. Anders, wie gesagt, bei Richterin, da das -in das Geschlecht des Referenten eindeutig auf ‚weiblich‘ festlegt.

Was machen wir aber, wenn wir keine solchen Hinweise haben? Wenn wir in der Zeitung beispielsweise lesen Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt? Der Satz kann bedeuten ‚drei Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Dies wäre die Lesart, die in der Diskussion gerne als ‚generisch‘ bezeichnet wird. Es kann aber auch bedeuten ‚drei männliche Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Die Interpretation, dass es sich um drei weibliche Personen handelt, ist auch möglich. Da wir aber eine spezifische Form haben, die die Referenz auf weibliche Personen erlaubt, ist dies zwar möglich, aber die sprachlich nicht präferierte Form.  

Der Streit um das sogenannte ‚generische Maskulinum‘ zielt auf die Interpretation von Nomen wie Richter ab und nicht auf ihre Bedeutung. Diejenigen, die sich für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache einsetzen, sagen, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tendenziell als ‚drei männliche Richter‘ interpretiert wird. Diejenigen, die sich für die Verwendung des ‚generischen Maskulinums‘ und die Ablehnung geschlechtergerechter Sprache aussprechen, argumentieren, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tatsächlich ‚drei bezüglich ihres Geschlechts nicht näher spezifizierte Richter‘ bedeutet. Es geht also darum, wie Menschen einen solchen Satz interpretieren. Damit bewegen wir uns nicht auf der Ebene der Wortbedeutung, sondern auf der Ebene der Interpretation eines Nomens im Satzkontext.  

Die Interpretation ist durch verschiedene Faktoren beeinflusst, unter anderem durch den sprachlichen Kontext (welche anderen sprachlichen Formen werden noch verwendet), aber auch durch unser Weltwissen. Zum Weltwissen gehören bestimmte Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wenn ich die Erfahrung habe, dass nur Männer Fußball spielen, dann interpretiere ich Der Fußballer brach sich ein Mann eher als ‚der männlicher Fußballer‘. Eine geschlechtsunspezifische Interpretation ist dann wenig naheliegend (obwohl möglich). Aber auch Geschlechterstereotype spielen bei der Interpretation eine Rolle. Es gibt gesellschaftlich kolportierte Geschlechtervorurteile, etwa ‚Männer sind mutig und Frauen hübsch‘. Solche Adjektive können zum Beispiel einen Einfluss auf die Interpretation haben. Wer mag sich wohl – und warum – eher von den folgenden fiktiven Stellenausschreibungen angesprochen fühlen? Welche Personen würden Sie hinter den bezeichneten Stellen eher erwarten: Männer, Frauen, egal?Suchen einen mutigen Mitarbeiter für die Nachtschicht‘ versus Suchen hübschen Mitarbeiter für die Nachtschicht.

Aber auch Grammatik wirkt sich auf die Interpretation auf. Nomen, deren Referenten männlich sind, sind tendenziell Maskulina. Ausnahmen sind in diesem Bereich kaum vorhanden. Nomen, deren Referenten weiblich sind, tendieren dazu Feminina zu sein. Das bekannte Gegenbeispiel Mädchen ist gut erklärbar, denn Diminutiva (Nomen, die mit -chen oder -lein enden) sind immer Neutra (das Richterlein, das Männchen). Trotzdem können wir beobachten, dass auch Mädchen als feminines Nomen behandelt wird. Wenn wir einen Satz wie Ein Mädchen klingelte an der Tür haben, dann können wir als Pronomen sowohl es (Es hatte lange Haare)oder sie (Sie hatte lange Haare) verwenden.Die Verwendung von es ist grammatikalisch motiviert, die von sie semantisch (der Referent ist weiblich).

Da wir eine Tendenz sehen, dass männliche Referenten durch maskuline Nomen bezeichnet werden, nutzen wir dies auch beim Interpretieren: Der Nomen ist maskulin, also dürfte der Referent männlich sein. Interpretieren ist ein Prozess, der der Hörerende vornimmt. Basierend auf dem, was der Sprechende von sich gibt, stellt der Hörende bestimmte Schlussfolgerungen an. Zum Beispiel: Was bedeutet denn das konzeptuell unterspezifizierte Nomen Richter in dieser konkreten Äußerung? Der Hörende nimmt die Evidenz, die er hat, ergänzt sie durch das vorhandene Weltwissen und stellt dann eine Schlussfolgerung an. Da das Weltwissen zwischen Personen variieren kann, können diese auch zu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Will ein Sprechender den Hörerenden möglichst gut anleiten, sodass keine Fehlinterpretation zustande kommt, dann sollte eine möglichst präzise Formulierung verwendet werden. Die konzeptuelle Unterspezifikation sollte vom Sprechenden bereits aufgelöst sein. Unterspezifikation lädt zur Interpretation ein.

Wenn es um die Verwendung des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘ geht, dann geht es also nicht darum, was ein Nomen an sich bedeutet, sondern wie ein Nomen in einem spezifischen Äußerungskontext von einem bestimmten Hörenden interpretiert wird. Die Forschung hat in verschiedenen Studien herausgearbeitet, welche Faktoren auf die Interpretation einwirken, aber auch, dass die Interpretation nicht generell geschlechtsunspezifisch bei ‚generischen Maskulina‘ ist. Sie lassen sich zwar generisch interpretieren, müssen es aber nicht. Und da liegt das zentrale Problem: Für einige Menschen ist geschlechtsspezifische Interpretation in verschiedenen Kontexten dominierend und dies führt zu Konsequenzen. Passiert dies im Bereich der Berufsbezeichnungen, dann können dadurch bestimmte Stereotype ausgebildet, bzw. verstärkt (Richter sind immer männlich) und zugleich Frauen von der Bewerbung auf bestimmte Stellen abgehalten werden.

Die Semantik kennt eine Unterscheidung zwischen der lexikalischen Bedeutung eines Ausdrucks (‚Ausdrucksbedeutung‘) und seiner Äußerungsbedeutung. Während Richter als lexikalische Bedeutung etwa ‚Person (unspezifischen Geschlechts), die den Richterberuf ausübt‘ hat, stellt die Äußerungsbedeutung die konkrete Interpretation im sprachlichen Kontext dar. Die Diskussion um das ‚generische Maskulinum‘ betrifft die Äußerungsbedeutung maskuliner Nomen (mit belebten Referenten) und nicht ihre lexikalische Bedeutung. Den Streit um das ‚generische Maskulinum‘ lösen wir nicht, indem wir uns über Regeln der Genuszuweisung, die historische Grundlage des Genussystems oder die Bedeutung von Wortbildungsmorphemen streiten, sondern in dem wir die Interpretation von Sprache in konkreten Äußerungskontexten untersuchen. Es geht also darum zu untersuchen, ob es Muster in der subjektiven Interpretation von Nomen in Äußerungskontexten gibt. Wenn ja, welche Interpretation? Und zugleich kann die Frage gestellt werden, ob es irgendwelche weiteren Merkmale (zum Beispiel Geschlecht der interpretierenden Person, Alter, Bildungsstand, Ausdrücke im sprachlichen Kontext) Einfluss auf die Interpretation haben.

Somit ist nun auch klar, wie das vermeintlich ‚generische Maskulinum‘ untersucht werden sollte: experimentell. Wir müssen schauen, wie Menschen in konkreten Äußerungen interpretieren. Aussagen wie ‚Richter ist generisch, denn das Nomen kann sich ja auf Frauen beziehen‘ sind nicht per se falsch, tragen aber nichts zur eigentlichen Diskussion – der Interpretation des Nomens in konkreten Äußerungskontexten – bei. Damit ist auch klar, welche Argumentationen bezüglich des vermeintlich ‚generischen Maskulinums‘ am eigentlichen Thema vorbeigehen und daher in der Debatte um die Verwendung geschlechtergerechte Sprache kein größeres Gewicht bekommen sollten. Im öffentlichen Diskurs finden sich viele lautstarke Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache, deren Argumente den Kern der Sache – die Äußerungsbedeutung von Nomen – nicht trifft. Daher ist es umso wichtiger, dass die linguistischen Grundlagen rund um diese Debatte verstanden sind, damit jede*r in der Lage ist die Qualität der jeweils vorgebrachten Argumentationen einschätzen zu können. Nur auf dieser Grundlage können solide wissenschaftliche Argumentationen von ideologischen Argumentationen unterschieden werden. 

Anmerkung: Dieser Beitrag enthält keine Verweise auf relevante Fachliteratur, gerne kann ich Referenzen zur Verfügung stellen. Bei Interesse einfach eine Email schreiben oder einen Kommentar hinterlassen. Einige Literaturverweise möchte ich an dieser Stelle aber doch (nach und nach) angeben:

Bezüglich des Themas ‚konzeptuelle Unterspezifikation‘ finde ich den Aufsatz Sense Individuation von Dirk Geeraets hilfreich (Geeraets, Dirk. 2015. Sense Individuation. In Nick Riemer (Hrsg.). The Routledge Handbook of Semantics, S. 233-247. Milton Parc: Routledge. )

Ausflug nach Potsdam

Wieder einmal der Verein für deutsche Sprache und die Neue Rechte

In Potsdam trifft sich die Neue Rechte und plant die Migration von allen, die ihr nicht passt. Mittendrin sitzt Silke Schröder, Vorstandsmitglied im Verein für deutsche Sprache (VdS). Frau Schröder ist nicht zufällig dort, denn alle Anwesenden wurden exklusiv eingeladen. Correctiv hat dieses Treffen beschrieben und in die Öffentlichkeit gebracht.

Es fiel dann schnell auf, dass der VdS im Zusammenhang mit diesem Remigrationstreffen genannt wird, sodass der Verein reagieren musste. In einer Stellungnahme des VdS heißt es, dass sich der Verein von den privaten Tätigkeiten seines Vorstandsmitglieds distanziere und diese weder mit dem Verein abgesprochen oder von diesem initiiert oder autorisiert worden wäre.

Der VdS distanziert sich also von der Teilnahme Frau Schröders an dem Treffen, er distanziert sich aber nicht von Frau Schröder. Außerdem will er Verein nichts davon gewusst haben, dass Frau Schröder an diesem Treffen teilnehmen will. Das mag sein, das Gegenteil lässt sich auch nicht beweisen. Dass aber Frau Schröder unter anderem das Thema Remigration verfolgt, hätte dem Verein bekannt sein können. Silke Schröder hat mehrere Kolumnen beim Deutschland-Kurier geschrieben, bzw. gesprochen. Der Deutschland-Kurier gilt als AfD-nahe und versammelt zahlreiche Autoren aus dem rechtspopulistischen und rechtsextremen Spektrum als Autor*innen, bzw. Kolumnist*innen. Darunter sind zahlreiche AfD-Politiker, Erika Steinbach, Johannes Schüller (der als Mitbegründer der Identitären Bewegung in Deutschland gilt; hier) und Personen, die auch für die Junge Freiheit – einem weiteren rechten Blatt – schreiben. Auf der Kolumnenseite von Frau Schröder heißt es u.a. „Wir brauchen eine robuste Remigrations-Kampagne, damit unsere Heimat und der am höchsten entwickelte Kontinent nicht einem fürchterlichen Niedergang anheimfallen“. Die Seite datiert auf den 17. November 2023, rund eine Woche vor dem Remigrationstreffen in Potsdam.

Ob irgendwer im Verein von diesen privaten Tätigkeiten des Vorstandsmitglieds Schröder wusste? Ob irgendwer über ihre Videos auf YouTube gestolpert ist? Wer weiß! Dass der VdS vollkommen unwissend ist, wäre glaubhaft, wenn Frau Schröder ein Einzelfall wäre. Im VdS finden sich aber auch andere Mitglieder, die eine offizielle Position – Gruppenleiter – einnehmen und klar der Neuen Rechten angehören. Über den AfD-Politiker Martin Louis Schmidt und den offiziell zu den Grünen gehörenden Rolf Stolz hatte ich bereits an anderer Stelle geschrieben (hier und hier). Kurz zu Stolz, da die AfD-nähe ja schon durch Frau Schröder belegt ist. Stolz ist für das Magazin Compact aktiv, das der Verfassungsschutz unter der Rubrik „Rechtsextremistische Akteure der Neuen Rechten und Verdachtsfälle“ im Verfassungsschutzbericht 2022 aufgeführt.

Stolz, Schmidt und Schröder sind aber nicht die einzigen Mitglieder des VdS, die rechtslastig sind. Der erste Vorsitzende des Vereins – Prof. Dr. Walter Krämer – hat in einem Interview mit der Jungen Freiheit – das rechte AfD-nahe Publikationsorgan, das oben bereits erwähnt wurde – gegen grüne Ideologie gewettert.  Über Krämer wird immer wieder einmal gesagt, dass es eine Nähe zur AfD und zur Neuen Rechten aufweise (z.B. hier), selbst stellt er dies anders dar. Unter anderem findet sich die Behauptung, dass er in der FDP sei, aber Rolf Stolz ist auch bei den Grünen und trotzdem in der Neuen Rechten verankert. Egal…

Zum Vorstand gehört auch Prof. Dr. Bruno Klauk, der durch eine Studie zu Intelligenz von Migranten einige Bekanntschaft erzielte. Wer ein wenig recherchiert stellt fest, dass diese Studie als durchaus ‚umstritten‘ bewertet wurde. Der Artikel wurde unter anderem als „rechtspopulistische Hetze“ bewertet und in Folge der entstandenen Kontroverse traten vier von fünf Herausgebern zurück. Wer verteidigte den Artikel und attestierte ein methodisch sauberes und den Gepflogenheiten des Fachs entsprechendes Vorgehen? Walter Krämer (Dazu: hier). Zusätzlich scheint Klauk durchaus Interesse an der Jungen Freiheit zu haben, wie Wirtschaftspsychologie Heute berichtet (https://www.wirtschaftspsychologie-heute.de/ideologisch-gekapert-der-klauk-eklat-bei-der-zeitschrift-wirtschaftspsychologie/). Die Junge Freiheit? Da war in den 90er Jahren übrigens Martin Louis Schmidt Chefredakteur.  

Ein weiteres Vorstandsmitglied ist Sabine Mertens, die ebenfalls eine umstrittene Person ist. Als Sprecher der „Initiative gegen Gendersprache“ trat Mertens von ihrem Posten zurück. Ihre Begründung dazu: harte Angriffe gegen sie. Von ihr waren Äußerungen wie „Wenn wir jetzt alle schwul, lesbisch oder trans werden sollen, ist die Evolution zu Ende“ zu hören und bezeichnete geschlechtergerechte Sprache als PR-Maßnahme der LGBTQ-Bewegung (hier). Als Sprecher der oben genannten Initiative wies Sabine Mertens zwar die AfD zurück, aber ihre Äußerungen weisen schon gewisse Parallelen zu dem auf, was im Compact Magazin zum Thema ‚Gender(n)‘ zu lesen ist. Mertens äußert sich jedoch um einiges moderater und das, obwohl sie sich für homophobe Äußerungen entschuldigen musste.  

Eine weitere Dame in VdS-Vorstand ist Regien Stephan. Wer ihren bei der Suchmaschine Google eingibt, wird direkt fündig: Die Dame ist Mitglied der AfD im Kreis Siegen-Wittgenstein. Dort ist sie stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD im Kreistag.

Im Verein für deutsche Sprache und insbesondere dessen Vorstand sind somit einige Personen versammelt, die politisch eher rechts zu verorten sind. Dem Verein kann somit zumindest auf Ebene der offiziellen Vereinsvertreter eine gewisse Affinität zu rechtspopulistischen, teilweise auch rechtsextremen Positionen attestiert werden. Heißt das nun, dass Frau Schröders Privataktivitäten wirklich ganz privat sind und im Verein nicht bekannt waren? Nein, das heißt es nicht. Es erklärt aber, warum sich der Verein zwar von Frau Schröders Aktivität, nicht aber von ihr distanziert.

Der Verein für deutsche Sprache scheint die Causa Schröder aber recht ernst zu nehmen. Normalerweise reagiert der VdS nicht auf kritische Nachfragen und wenn, dann polemisch. Die Reaktion auf die zahlreichen Kommentare zur Teilnahme von Frau Schröder an dem Potsdamer Treffen hat der Verein mit dem Posting der immer gleichen Stellungnahme – identisch auf der Homepage – reagiert. Eine Reaktion und ganz ohne Polemik. Der VdS scheint zu merken, dass diesmal nicht mit Ignoranz oder Polemik weiterzukommen ist.    

Die Aufmerksamkeit, die auf den Verein gelenkt wurde, könnte nun dazu führen, dass einige Unterstützer*innen des Vereins ihre Unterstützung noch einmal überdenken.

Geschlechtergerechte Sprache und Leitkultur

Warum ist das Thema ‚Genderverbot‘ gerade so aktuell in der CDU? Greift die CDU nur auf, was so viele Deutsche – angeblich – wünschen? Oder liegt dies vielleicht anderswo begründet? Vielleicht in der Person des aktuellen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz?

Die Antwort auf diese Frage ist vermutlich komplex: Einerseits greift die CDU ein Thema auf, dass in rechts-konservativen Kreisen präsent ist. Die AfD und die noch extremere Rechte wendet sich schon seit längerem gegen den vermeintlichen ‚Genderwahnsinn‘. Dass dieses Thema aber unter Friedrich Merz nun so populär ist – immerhin will die Hessen-CDU eine rechtliche Einschränkung der Verwendung geschlechtergerechter Sprache erwirken – , ist aber kein Zufall.

Im Jahr 2000 hat Friedrich Merz den Begriff der ‚Leitkultur‘ ins Spiel gebracht, in dem Jahr, in dem das novellierte Staatsangehörigkeitsrecht Inkraft trat. Damit war die Möglichkeit einer einfachereren Einbürgerung geschaffen. Mit dem Begriff der ‚Leitkultur‘ wurde die Angst aufgegriffen, dass durch leichtere Einbürgerungen Menschen Deutschen werden könnten, deren Kultur anders ist. In Merz Augen muss somit die Gefahr einer kulturellen Aufsplitterung bestanden haben, der damit begegnet werden sollte, dass die deutsche Leitkultur als Orientierungspfad für alle Deutschen – ob geborene oder eingebürgerte – dienen sollte.

Dass es so etwas wie ein deutsches Wesen gibt, wurde immer wieder behauptet. Wolfgang Bergem arbeitet dies schön heraus und legt dar, dass in der historischen Debatte auch immer wieder die deutsche Sprache als identitätsstiftendes Element – Bergem (Seite 72) spricht von einem vermeintlichen Wesenskern des deutschen Volkes – verstanden wurde. Sprachlicher Wandel wird als kultureller Wandel interpretiert, der in seinem Extrem das Volk bedrohe. Darauf wird seitens der Politik mit verschiedenen Forderungen reagiert. Die AfD forderte die deutsche Sprache in das Grundgesetz aufzunehmen, damit sie besonders geschützt und ihre bedeutende Rolle betont werde. Der CDU-Generalsekretär Mario Czaja forderte eine Deutschpflicht auf Schulhöfen.

Sprachliche Veränderungen werden problematisiert, da sie unmittelbar die kulturelle Identität des Volkes betreffen. Sprachliche Veränderungen werden dabei häufig mit gesellschaftlichen Veränderungen assoziiert, bzw. werden sie als Symptome gesellschaftlicher Veränderungen identifiziert. Dies wird beispielsweise in folgendem Statement von Martin Louis Schmidt deutlich: Wir „lehnen eine Instrumentalisierung unserer Sprache durch politisch korrekte Vorgaben oder geschlechterneutrale Ideologisierungen in aller Deutlichkeit ab. Letzteres nicht nur, weil das sogenannte Gender Mainstreaming im Rahmen eines undemokratischen familienfeindlichen Gesellschaftsexperiments stattfindet. Die mit der teilweisen Leugnung der biologischen Geschlechter zugunsten sogenannter „sozialer Geschlechter“ einhergehenden begrifflichen und grammatikalischen Kunstgriffe sind in unseren Augen nicht zuletzt sprachästhetische Vergewaltigungen“.

Martin Louis Schmidt ist Landtagsabgeordneter der AfD im Landtag von Rheinland-Pfalz, sowie für die rechtspopulistische Zeitschrift Junge Freiheit aktiv. Außerdem ist er Arbeitsgruppenleiter der Gruppe ‚AfD für gutes Deutsch‘ beim Verein für deutsche Sprache. Der Homepage des Vereins ist auch obiges Statement entnommen. Er stellt darin geschlechtergerechte Sprache als „undemokratisches, familienfeindliches Gesellschaftsexperiment“ dar. Sprachliche Änderungen werden somit direkt auf andere gesellschaftliche Aspekte – hier das Familienbild – bezogen.

Zurück zu Friedrich Merz: Er hat den Begriff der ‚deutschen Leitkultur‘ bereits vor über 20 Jahren in die CDU eingebracht und damit die Idee, dass es eine Leitlinie gibt, anhand derer sich alle zu orientieren haben. Zur Leitkultur gehört, wie die Debatte zeigt, auch die deutsche Sprache. Dabei geht es nicht nur darum, dass Menschen deutsch lernen müssen, wenn sie Deutsche sein wollen. Es geht auch darum, dass Veränderungen der Sprache Veränderungen der Kultur – und damit letztlich der Volksidentität – bedeuten. Auf diese Weise können sprachliche Veränderungen – wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache – als Gefahr für das deutsche Volk interpretiert werden. In diesem Extrem wird dies nur in der extremen Rechten ausgesagt, aber das zugrundeliegende Volkskonzept wird von rechten (AfD und Neue Rechte) und konservativen Gruppen (CDU/CSU, Freie Wähler) geteilt.     

Es ist, denke ich, kein Zufall, dass das Thema der geschlechtergerechten Sprache aktuell in der CDU stark aufgegriffen wird. Die Verwendung geschlechtergerechter Sprache stellt einen Angriff auf Merz Leitkultur dar.


 

Literatur

Bergem, Wolfgang. 2019. Volkserzählungen, Narrative des Volkes, Narrative über das Volk. In: Michael Müller & Jørn Precht (Hrsg.). Narrative des Populismus. Erzählmuster und -strukturen populistischer Politik, 63-80. Berlin: Springer.

Die sind gefährlich, zu viele und zu teuer

Rechte Argumentationsmuster am Beispiel der AfD Nettetal

Die Argumentationsmuster rechter Parteien sind gut bekannt, dennoch lohnt es sich, immer wieder auf die Argumentationen zu schauen und aufzuzeigen, welche Ideen und wie wenig substantielle Argumente tatsächlich hinter diesen Argumentationsmustern stehen. Dies möchte ich an dieser Stelle anhand einer verbalen Auseinandersetzung um eine Flüchtlingsnotunterkunft vornehmen.

Widerstand gegen Flüchtlingsunterkünfte ist kein Phänomen aus Ostdeutschland, auch tief im Westen findet sich solcher Protest. Ganz im Westen – an der Grenze zu den Niederlanden – liegt Nettetal. Im März 2023 wurde durch den Rat der Stadt Nettetal entschieden, dass eine neue Notunterkunft für geflüchtete Menschen bereitgestellt werden soll. In einer solchen Notunterkunft sollen geflüchtete Menschen zeitweilig unterkommen, die Notunterkünfte sollen sie wieder verlassen, sobald sie in reguläre Einrichtungen unterkommen können. Als Ort für die Notunterkunft wurde eine alte, nicht mehr genutzt Hauptschule im Stadtteil Kaldenkirchen ausgewählt.

Mittlerweile gibt es eine Bürgerinitiative, die Unterschiften gegen den Standort der Notunterkunft sammelt. Natürlich mischt die AfD bei diesem Thema auch mit. Auf der Internetseite der AfD-Fraktion Nettetal ist eine Stellungnahme zu der geplanten Unterkunft veröffentlicht. Was spricht nach AfD-Meinung gegen diese Flüchtlingsunterkunft?

Es ist unverantwortlich, im näheren Umfeld eines Kindergarten, der Realschule, der     Grundschule und des Schwimmbades eine Flüchtlingsunterkunft einzurichten, wo        keiner der Verantwortlichen über die Herkunft der „neuen Bürger“ Bescheid weis [sic!]. Und nicht zu vergessen das Finlantis in unmittelbarer Nähe, welches auch von jungen       Damen besucht wird.

Die AfD schreibt, dass es unverantwortlich sei, die Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Orten, an denen Kinder und „junge Damen“ sind, entstehen soll. Warum unverantwortlich? Die AfD ist diesbezüglich nicht explizit, es scheint aber damit zu tun haben, dass die Herkunft der Geflüchteten im Vorfeld nicht bekannt sei. Soll dies heißen, dass es Menschen gibt, die aufgrund ihrer Herkunft für Kinder und „junge Damen“ besonders problematisch sind? Wenn ja, welche sollten das sein und warum? Und vor allem, was ist daran unverantwortlich, dass Geflüchtete Menschen vorher unbekannter Herkunft in der Nähe von Kindern und „jungen Damen“ sind? In einem später folgenden Textstück wird deutlich, was die AfD als unverantwortlich ansieht. Sie spricht explizit davon, dass die Geflüchteten eine Gefahr für „unsere Kinder“ seien. Es gibt bereits andere Notunterkünfte und durch diese haben sich bislang keine Gefahren für Kinder und „junge Damen“ ergeben.

Das Konzept der Flüchtlingsunterkunft sieht vor, dass die diese rund um die Uhr und zwar die ganze Woche durch einen Sicherheitsdienst begleitet wird. Der Sicherheitsdienst hat unter anderem die Funktion, dass nur die Bewohner in die Unterkunft kommen, die dort auch untergebracht sind. Dazu schreibt die AfD:

Kein Bürger soll sich wegen der Sicherheit unserer Kinder Gedanken machen, da ein Sicherheitsdienst für Ordnung sorgen soll. Echt jetzt? Das klingt wie blanker Hohn, weis [sic!] doch mittlerweile jeder Nettetaler Bürger, das z. Bsp. der Ordnungsdienst der             Stadt unterbesetzt ist und noch nicht einmal an den Brennpunkten in Nettetal (z.Bsp. Ingenhovenpark oder am Doerkesplatz im Sparkassenumfeld etc.) für Sicherheit  und Ordnung sorgen kann. Will uns der Bürgermeister allen Ernstes erzählen, dass die         beauftragte Sicherheitsfirma auch außerhalb der Unterkunft 24/7 die Sicherheit unserer    Kinder gewährleisten kann?       

Weder haben der Ordnungsdienst der Stadt noch die privater Sicherheitsdienst die Aufgabe, für Sicherheit auf öffentlichen Straßen und Plätzen zu sorgen. Dies ist Aufgabe der Polizei. Hier wirft die AfD verschiedene Dienste ungeachtet ihrer unterschiedlichen Aufgaben in einen Topf. Zugleich bringt sie möglicherweise vorhandene Problembereiche mit bislang noch nicht einmal in Nettetal befindlichen Geflüchteten in Beziehung. Welcher Zusammenhang besteht zwischen „Brennpunkten“ in Viersen und der geplanten Flüchtlingsunterkunft? Die AfD nutzt ein vielleicht in Nettetal teilweise vorhandenes gefühl fehlender Sicherheit – zumindest wird eine fehlende Sicherheit durch die angeblichen „Brennpunkte“ suggeriert – und überträgt dieses von ihr festgestellte Sicherheitsdefizit auf ganz andere Bereiche. Auch wenn es keinerlei Rechtfertigung gibt, wird eine Ablehnung einer zukünftigen Einrichtung durch aktuell gefühlte Unsicherheit begründet. Zwischen beidem steht keinerlei Bezug.

Wenn die AfD ein Sicherheitsdefizit in Nettetal sieht, dann ist die richtige Adresse, dies anzusprechen, die Polizei und eventuell städtische Sozialarbeit, nicht aber der Sicherheitsdienst, der sich um die Notunterkunft wird kümmern sollen.

Das erste „Argument“ der AfD ist also, dass es ein Sicherheitsproblem gäbe. Die AfD suggeriert eine nicht belegbare Gefahr durch geflüchtete Menschen und erzeugt somit fremdenfeindliche Vorurteile.

Im Frühjahr 2023 war die Aufnahmekapazität für Geflüchtete bereits fast vollständig   erreicht. Warum lässt sich der Bürgermeister jetzt weitere 100 Menschen vom Land       zuweisen. Ein richtiger Bürgermeister hätte sich massivst gewehrt.

Die Verteilung Geflüchteter erfolgt über das Land. Dies als Bürgermeister nicht zurückzuweisen ist ein Zeichen der Solidarität mit anderen Kommunen. Wenn Aufnahmekapazitäten ausgeschöpft sind, dann müssen neue Unterkünfte errichtet werden. Das ist es ja gerade, was in diesem Fall geschehen soll. Die AfD greift den Bürgermeister greift auch wieder die angebliche Spaltung zwischen Bürger*innen und Politik auf und behauptet, dass der Nettetaler Bürgermeister nicht nur falsche Entscheidungen trifft, sondern auch noch wie ein unechter oder falscher Bürgermeister agiert. Damit findet eine persönliche Diffamierung des Bürgermeisters statt, der gegenüber den Lesern als unfähig oder auch unwillig zu „richtigem“ Handeln dargestellt wird.

Das zweite „“Argument“ der AfD ist, dass bereits zu viele Geflüchtete aufgenommen worden wären und die Kapazitäten ausgeschöpft seien. Zum Schluss geht es dann noch ums Geld:

Von der Finanzierung ganz zu schweigen. Der Umbau der Hauptschule wird nach   unseren Berechnungen mind. 1.000.000,00 € verschlingen zzgl. jährlicher Folge- und Betriebskosten von mind. 360.000,00 €.

Die AfD nennt Kosten für Umbau und den Betrieb der Einrichtung, obwohl der aktuelle Stand ist, dass die nötigen Maßnahmen zum Umbau erst noch geprüft werden müssen. Eine Anfrage bei der Grünen Fraktion der Stadt, die Rücksprache mit dem Bürgermeister nahm, ergab, dass bislang keinerlei Zahlen zu den Kosten vorliegen. Wie kommt die AfD auf diese Zahlen, die seitens der angefragten Stellen als „Fake News“ bezeichnet werden? Jedenfalls ist das dritte „Argument“ klar: Das kostet uns alles zu viel. Ich habe bei der AfD angefragt, wie sie auf die oben genannten Zahlen kommt, bislang habe ich dazu aber keine Antwort erhalten.

 Die AfD vermengt in ihrer Stellungnahme fremdenfeindliche Vorurteile („gefährlich“), unbelegte Behauptungen (Kosten) und stellt falsche Zusammenhänge her (gefühltes Sicherheitsdefizit), damit greift sie die klassischen Argumente, die seitens rechter Kreise gegen die Unterbringung geflüchteter Menschen immer wieder vorgebracht werden, auf: „Die“ sind gefährlich, wir haben schon genug von „denen“ und das kostet alles zu viel. Es werden unhaltbare und unbelegbare Aussagen genutzt, um unter dem Deckmantel der Sicherheit und hoher Kosten Stimmungsmache gegenüber geflüchteten Menschen zu machen.

Töte meine Tochter und brate mir ihre Lunge

Dürfen sich Märchen verändern?

Würden Sie einem kleinen Kind eine Geschichte vorlesen, in der die Mutter das eigene Kind aus Neid versucht zu töten? Würden Sie es tolerieren, wenn eine Mutter die Lunge der eigenen Tochter essen will? Wäre eine Liebesbeziehung zu einem verstorbenen Märchen – nicht in Form einer romantischen Vampirgeschichte – passend für Kinder? Wenn Sie eine dieser Fragen mit Nein beantwortet haben, dann sollten Sie ihren Kindern nicht ‚Schneewittchen‘ vorlesen. Vielleicht gehört ‚Schneewittchen‘ aber trotzdem zum Vorlese- oder Videoklassiker bei Ihnen zuhause? Es scheint jedenfalls einige Menschen zu geben, die ein enges Verhältnis zu dem Märchen aufweisen, denn momentan gibt es in den (sozialen) Medien einige Diskussionen bezüglich einer Neuverfilmung des Märchens Schneewittchen. Disney hat für die Neuauflage des Märchenklassikers einige Veränderungen vorgesehen: Schneewittchen soll von einer lateinamerikanischen Schauspielerin gespielt werden, die sieben Zwerge sollen durch sieben Wesen ersetzt werden, von denen eines unter anderem weiblich ist.

Ein kleinwüchsiger Schauspieler hatte das Zwergenklischee im Vorfeld kritisiert und nun läuft in den (sozialen) Medien eine Protestwelle auf, in denen von Cancel Culture und Verfälschungen des Märchens, ganz allgemein unter dem Stichwort ‚Wokeness‘, gesprochen wird. Die wesentlichen Probleme sind, wie es scheint, dass Schneewittchen in der Neuverfilmung keine weiße Hautfarbe hat und die Zwerge keine Zwerge mehr sind. Es scheint, dass damit für einige Menschen eine Art Tabu gebrochen wurde, denn Grimmsche Märchen zu verändern, das geht nun wirklich nicht.

Die Brüder Grimm haben selbst sehr eifrig ihre eigenen Texte revidiert und in über die Jahre hinweg deutlich verändert. Dies lässt sich sehr leicht überprüfen, wenn mensch die letzte von den Grimms autorisierte Version von 1857 mit der ersten Version von 1812/1815 vergleicht. Wir alle wissen wahrscheinlich, dass Schneewittchens Mutter bei der Geburt starb. Es heißt es in der letzten Version: „Und wie das Kind geboren war, starb die Königin„. [Alle Textbelege stammen aus der Online zugänglichen Veröffentlichung der Kinder- und Hausmärchen.] Später heiratet Schneewittchens Vater – der König – dann eine Frau, die zu Schneewittchens Stiefmutter wird und sie aufgrund ihrer Schönheit umbringen lassen will. Die erste Version sieht noch ganz anders aus. Da verstirbt die Mutter nicht und folglich ist es nicht die böse Stiefmutter die neidisch auf Schneewittchen ist, es ist die leibliche Mutter.

Dies mag nur ein kleines Detail sein, es zeigt aber, dass die Grimms selbst ihre Märchen auch inhaltlich veränderten. Irgendwie ist es aber auch sehr grausam, wenn die eigene Mutter einen Mordauftrag erteilt, ein wenig wird diese Grausamkeit dadurch entschärft, dass es in der letzten Version „nur“ die Stiefmutter ist. Insgesamt weist das Märchen viele grausame Stellen auf. So will die Mutter, bzw. Stiefmutter, dass der Jäger Schneewittchen nicht nur tötet, er soll auch noch Organe des getöteten Mädchens mitbringen. In der ersten Version des Märchens heißt es: „Da ließ ihr der Neid keine Ruhe, und sie rief einen Jäger und sagte zu ihm: ‚führ das Sneewittchen hinaus in den Wald an einen weiten abgelegenen Ort, da stichs todt, und zum Wahrzeichen bring mir seine Lunge und seine Leber mit, die will ich mit Salz kochen und essen‘.“ Nicht nur geht es ums Kindstötung, hinzu kommt auch noch Kannibalismus.

Es ist bekannt, dass der Jäger Schneewittchen – oder Sneewittchen wie das Mädchen im Original heißt – nicht tötete, sondern im Wald alleine ließ. Nicht aus purer Gutmütigkeit, denn er ist der Meinung, dass das Kind auch so nicht alleine überleben wird. Tut sie aber doch. Die (Stief-)Mutter fühlt sich dadurch zu mehreren Mordanschlägen auf das Mädchen verführt und scheitert zweimal durch das gerade noch rechtzeitige Eingreifen der sieben Zwerge. Beim letzten Mal kommen die Zwerge vermeintlich zu spät. Sie halten Schneewittchen für tot, betten sie in einen Sarg und stellen sie aus. Dann kommt eine Stelle, die mich sehr irritiert: „Einmal kam ein junger Prinz zu dem Zwergenhaus und wollte darin übernachten, und wie er in die Stube kam und Sneewittchen in dem Glassarg liegen sah, auf das die sieben Lichtlein so recht ihren Schein warfen, konnt er sich nicht satt an seiner Schönheit sehen, und las die goldene Inschrift und sah, daß es eine Königstochter war. Da bat er die Zwerglein, sie sollten ihm den Sarg mit dem todten Sneewittchen verkaufen, die wollten aber um alles Gold nicht; da bat er sie, sie mögten es ihm schenken, er könne nicht leben ohne es zu sehen, und er wolle es so hoch halten und ehren, wie sein Liebstes auf der Welt.“ (Erste Version)Es kommt also ein Prinz daher, der Schneewittchen für tot hält, sich in sie verliebt und – zunächst einmal – den Leichnam den Zwergen abkaufen will. Nur sein Versprechen, dass er die Tote sehr lieb halten wird, ringt den Zwergen das vermeintlich tote Mädchen ab. Strikt genommen liegt hier kein Fall von Nekrophilie vor, da es nicht um sexuelle Handlungen an Toten geht. Aber irgendwie ist das Begehren und Vorgehen des Prinzen doch ein wenig verstörend.      Der Kannibalismus und dieses komische Verhältnis des Prinzen – bzw. in der späteren Variante heißt es ‚Königssohn‘ – zu einer Toten, haben bislang wenig Anlass zur Kritik gegeben. Dass der Kannibalismus dabei in modernen Versionen unter den Tisch fällt – er ist kein Bestandteil der Märchenwiedergabe in Wort oder Film ist – wird ohne Murren hingenommen. Anders sieht es aus, wenn plötzlich Kritik an den Zwergen geäußert wird.

Welche Rolle haben eigentlich die Zwerge in dem Märchen? Die Zwerge retten Schneewittchen ein paar Mal und am Ende bahren sie sie auf. Neben dem Retten scheint ein Aspekt wichtig zu sein, sie wollen Schneewittchen selbst nicht heiraten, denn dies ist die Aufgabe des Prinzen. Vielleicht sind sie deshalb Zwerge, damit sie nicht als potentielle Gatten für das Mädchen in Frage kommen. Einen in der Geschichte verwurzelten Grund, warum es Zwerge sind, gibt es jedenfalls nicht. Hannah Bethke schreibt in einem Kommentar für Die Welt: „Genauso verhält es sich mit der Symbolik der Zwerge: Sie sind Schneewittchen gerade nicht ebenbürtig, sondern verharren in einer bestimmten Entwicklungsstufe. Weibliche Zwerge gibt es im Übrigen nicht.“ Mit dem „genauso“ meint die Autorin, dass die Zwerge nicht diskriminierend seien, kleinwüchsige Menschen sich also nicht durch die Zwergencharaktere diskriminiert fühlen müssten. Wenn aber nun die Kleinwüchsigkeit der sieben Gesellen – das ist das zentrale Element, das die Zwerge in dem Märchen charakterisiert – dafür stehen soll, dass sie Schneewittchen nicht ebenbürtig stehen, empfinde ich das schon als eine diskriminierende Darstellung. Was soll es bedeuten, dass die Zwerge „in einer bestimmten Entwicklungsstufe“ verharren würden? Wird damit suggeriert, dass sie noch keine vollwertigen Menschen sind? Auch das kann durchaus als diskriminierend empfunden werden.

Vielleicht hatten die Grimms keine diskriminierende Intention, aber kleinwüchsige Menschen dürften sich dadurch diskriminiert fühlen. Und wenn sie es tun, dann wäre es auch akzeptabel, wenn Disney darauf reagiert. Aber ob sich kleinwüchsige Menschen diskriminiert fühlen, sollten kleinwüchsige Menschen entscheiden. Patricia Carl-Innig, die Vorsitzende des Bundesverbands kleinwüchsiger Menschen und ihrer Familien e.V., sagte in einem Interview mit dem Klassikradio, dass nicht die Figur der Zwerge das Problem sei – denn als Zwerge sehen sich kleinwüchsige Menschen gerade nicht – , sondern fehlende Vielfalt. Dennoch, so sagt sie auch, haben sich weltweil kleinküchsige Menschen von der Kritik an der Verwendung der Zwerge in der Märchenverfilmung – und natürlich insbesondere an den damit assoziierten Klischees – angesprochen gefühlt.

Also: wer in der Lage ist zwischen Fabelwesen – Zwerge – und kleinwüchsigen Menschen zu trennen, der oder die wird Schneewittchen wohl nicht als diskriminierend empfinden. Aus dem ganz einfachen Grund: Zwerge gibt es nicht. Ob es aber so einfach ist und die Assoziationen, die beispielsweise Frau Bethke bezüglich der Zwerge hat, auch nur auf diese Märchenfiguren beschränkt bleiben, ist eine andere Frage. Dem Problem kann jedenfalls entgangen werden, wenn die Zwerge durch andere, weniger menschliche Figuren ersetzt werden. Für die Geschichte selbst ist es unerheblich, ob Schneewittchen bei sieben Zwergen oder sieben aufrechtgehenden Heuschrecken unterkommt.

Wie steht es nun um Schneewittchen? Frau Bethke hat auch da eine Position: „Im Märchen der Gebrüder Grimm heißt es bekanntermaßen: Das „Töchterlein“, das die Königin gebar, „war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und war darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt“. Die weiße Haut von Schneewittchen ist ein Symbol für Unschuld, so wie das Rot Sexualität symbolisiert. Das hat nichts mit Rassismus zu tun.“ Sie hat Recht damit, dass die Farben symbolisch für Unschuld und Sexualität stehen. In einem Film kann Unschuld aber auch anders als durch weiße Hautfarbe symbolisiert werden. Es ist also auch hier wieder nicht notwendig, dass das Grimmsche Märchen buchstabengetreu umgesetzt wird.

Statt von Cancel Culture, Wokeness oder „linksidentitären Transformationszwang“ (Hannah Bethke) zu sprechen, sollte lieber der Grimmsche Umgang mit den Texten befolgt werden. Die Texte selbst sind nicht sakrosankt, vielmehr dienen sie dazu bestimmte Ideen – im Falle der Grimms durchaus auch (sprach)politische Ideen – zu transportieren. So wie die Grimms ihre Texte immer wieder verändert haben, sollten wir uns auch offen zeigen dafür, dass die Texte nicht final sind, sondern immer weiter optimiert werden können. Das betrifft Form und Inhalt der Texte. Immerhin scheint sich ja auch kein Mensch darüber aufzuregen, dass aus der neidischen Mutter mit Tötungsabsicht eine neidische Stiefmutter mit Tötungsabsicht wurde.   

Diesen Beitrag habe ich mit der Frage – dürfen sich Märchen verändern? – übertitelt. Meine Antwort ist: gerade die Märchen der Brüder Grimm wurden schon immer – ganz besonders von den Brüdern Grimm – verändert. Wenn die Grimms es getan haben, was sollte also schlimm daran sein? Und warum sollte es schlimm sein, wenn eine Märchenadaption vielfältiger – Schneewittchen dargestellt von einer Latina – und weniger diskriminierend ist? Anscheinend gibt es ja Menschen, die die Zwerge und die mit ihnen verknüpften Assoziationen als diskrimierend empfinden. Wer solche Veränderungen als ‚woke‘ oder ‚linksidentitär‘ empfindet, muss erklären, warum der Originaltext – welcher ist es denn eigentlich – so viel besser sein soll!

Vagheit und Neutralität

Begriffe sind oftmals vage: was fällt alles unter einen Begriff und was nicht mehr? Stellt ein Brett auf zwei Steinen einen Tisch dar? Die Antwort kann Ja oder Nein sein, je nach Kontext. Die Vagheit sprachlicher Ausdrücke ist immer dann ein Problem, wenn Begriffe exakt sein soll, zum Beispiel in der Wissenschaft oder der Rechtsprechung. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass sich Gerichte manchmal damit beschäftigen müssen, ob ein bestimmer Begriff etwa irreführend gebraucht wird. Dies ist insbesondere im Marektingkontext der Fall: Darf Firma A Bezeichnung XY wirklich verwenden oder täuscht sie damit die Verbraucher?

Das Begriff ‚klimaneutral‘ war kürzlich Gegenstand eines juristischen Urteils des Landgerichts Karlsruhe (hier nachzulesen). Konkret gibt es um sogenannte ‚klimaneutrale Seife‘ des Discounters dm. Der Vorwurf gegenüber dm: es werde zwar das Labek ‚klimaneutral‘ verwendet, CO2-Emissionen werden jedoch kaum eingespart. Stattdessen nimmt dm sogenannte Klimakompensationen, also die Investition in bestimmte Typen von Klimaschutzprojekten – etwa Aufforstungsmaßnahmen – vor. Geklagt hatte die Deutsche Umwelthilfe, deren Pressemitteilung zur Klage hier zu finden ist.

Das Urteil des Landgerichts war – knapp zusammengefasst- , dass dm die hinter dem Label ‚klimaneutral‘ stehenden Maßnahmen nur intransparent darstellt, kaufrelevante Informationen nicht geliefert werden würden und Waldschutz nicht dasselbe wie Klimaschutz ist. An dieser Stelle fing es nun an, dass mich das Thema interessierte. So hatte ich doch kürzlich Kontakt zur Firma GLS, die auf einem alten Verbrenner die Werbeaufschrift „100% klimaneutral“ fahren ließ. Mein Beitrag dazu ist hier zu finden. Was laut Homepage von GLS unter ‚Klimaneutralität‘ zu verstehen ist – insbesondere auch hier Kompensationsmaßnahmen – , hatte ich in dem Beitrag diskutiert. Der Beitrag hatte jedenfalls eine Reaktion seitens GLS bewirkt.

In einer Nachricht an mich hieß es, dass GLS die Werbung auf dem fotografierten Fahrzeug entfernen ließ und nach weiteren ähnlichen Fahrzeugen mit solcher Werbung im Bestand suchen würde, damit auch dort die Werbung entfernt werden würde. Das ist schon einmal ein guter Schritt, finde ich.

Weiterhin wurden mir aber auch weitere Informationen zu den Maßnahmen, die GLS zum Erreichen der Klimaneutralität umsetzt, zugeschickt. Zudem hatte ich die Möglicheit weitere Nachfragen zu stellen. Damit ergibt sich ein etwas dezidiertes Bild bezüglich der von GLS durchgeführten Maßnahmen, die sich hinter dem Begriff ‚klimaneutral‘ verbergen.

Auf der letzten Meile, also dem abschließenden Paketzustellen, setzt GLS vermehrt auf alternative Zustellmöglichkeiten und Antriebe. Unter alternativen Zustellmöglichkeiten sollen unter anderem Lastenräder zu verstehen sein, unter alternativen Antrieben sind vor allem batteriebetriebene und Brennstoffzellenfahrzeuge zusammengefasst. Auf der Homepage der Firma heißt es dazu, dass bereits 600 Elektrofahrzeuge eingesetzt werden würden. Der Strom für die Elektrofahrzeuge soll zu 100% aus Wasserkraft stammen. Die Umstellung der Fahrzeuge erfolgt sukzessive, sodass noch nicht alle Fahrzeuge auf der letzten Meile klimaneutral unterwegs sind.

Für die weiteren Strecken plant GLS den Umstieg auf andere Antriebsmodelle, die sind – so Aussage der Firma – aber noch nicht marktreif. Ich verstehe dies so, dass in diesem Bereich somit noch die klassischen Verbrenner unterwegs sind. Die dabei entstandenen Emissionen, wurde mir gesagt, sollen zu 100% kompensiert werden. Kompensation ist aber einzweischneidiges Schwert. Die CO2-Emissionen erfolgen punktuell, Neupflanzungen nehmen CO2 im Laufe ihren Lebenszyklus auf. Die Emissionen werden damit nicht zum Zeitpunkt ihrer Emission ausgeglichen.

Im Urteil des Landesgerichts Karlsruhe steht: „Der Claim der Klimaneutralität des Produkts geht nämlich prinzipiell über das hinaus, was mittels CO2-Zertifikaten aus Waldschutz erreichbar ist. Der Verbraucher erwartet, dass eine Kompensation von Emissionen, die im Ergebnis zur Klimaneutralität des Produkts führen soll, diese auch tatsächlich bewirkt. Das produktbezogen emittierte Treibhausgas muss also dauerhaft bilanziell neutralisiert worden sein. CO2 besitzt jedoch in der Atmosphäre eine Verweildauer, die weit über die Laufzeit der Waldschutzprojekte hinausgeht. Wald bindet und speichert CO2 demgegenüber nur vorübergehend. Wenn ein Baum gefällt wird und vermodert oder auch abbrennt, setzt er das gespeicherte Treibhausgas wieder frei. Erreicht wird durch – erfolgreiche, korrekt aufgesetzte – Waldschutzprojekte sicherlich, dass mehr Wald für längere Zeiträume erhalten wird, wodurch in den entsprechenden Zeiträumen die CO2-Speicherkapazität des geschützten Waldes höher ist als im hypothetischen Szenario ohne das Projekt. Dies ist allerdings ein völlig anderer Effekt als der, den der Verbraucher aufgrund des Klimaneutral-Claims erwartet. Die produktbedingten, anthropogenen, zusätzlichen CO2-Emissionen sind hunderte oder tausende Jahre nachweisbar, gebunden und gespeichert wird die entsprechende Menge an CO2 durch das konkrete Waldschutzprojekt nur für Jahrzehnte. Danach ist die vorübergehend ausgeglichene CO2-Bilanz des Produkts wieder unausgeglichen. Um sie dauerhaft auszugleichen, müssten kontinuierlich – auch in 100 oder 1000 Jahren – weitere entsprechende Waldschutzbemühungen unternommen werden“.

Zwei der vier Klimakompensationsprojekte, die GLS laut eigener Homepage unterstützt, sind ebenfalls Waldschutzprojekte. Damit gilt für GLS wie auch für dm, dass das Label ‚klimaneutral‘ irreführend ist.

Sprachliche Begriffe müssen eine gewisse Vagheit aufweisen, damit wir Sprache auch flexibel verwendet können. In manchen Bereichen ist Vagheit aber ein großes Problem, da Begriffe auch – neutral gesprochen – manipulierend oder – negativ gesprochen – irreführend gebraucht werden können. Gerade im Hinblick auf Klimaschutz ist es wichtig, dass Begriffe wie ‚klimaneutral‘ sehr präzise gebraucht werden, sodass sie keinen Spielraum für Greenwashing erlauben, sondern deutlich machen, wo echte CO2-Reduktion erfolgt und wo nur kompensiert wird. Urteile wie die des Landesgerichts Karlsruhe sind wichtig, damit solche Begriffe in bestimmten Kontexten – hier Marketing – präziser verwendet werden und Verbraucher*innen, die sich bewusst für ein klimaneutral agierendes Unternehmen entscheiden, am Ende auch das bekommen, was sie unter ‚klimneutral‘ verstehen: nämlich ein Unternehmen, dessen CO2-Bilanz neutral ist und nicht eines, das weiterhin CO2 emittiert.

Penetrant rücksichtslose Klimakriminelle

Negatives Framing von Klimaaktivisten in Politik und Polizeigewerkschaft

Welche Rolle spielen Äußerungen von Politiker*innen und Polizist*innen bezüglich der öffentlichen Wahrnehmung von Klimaaktivist*innen? Keine unwesentliche, denn sowohl Politiker*innen als auch Polizist*innen – letztere zumindest, wenn sie Vorsteher*innen einer Gewerkschaft sind – sind öffentliche Personen. Ihnen wird in ihrer Funktion beispielsweise als Innenminister*in Kompetenz zugetraut und ihre Äußerungen finden ein Medienecho. Daher ist es nicht unerheblich, wenn solche Personen sich zur Gruppe der Letzten Generation äußern.

Dies haben Joachim Herrmann, Innenminister Bayerns und Mitglied der CSU, sowie Jochen Kopelke, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei (GdP), gegenüber der Deutschen Pressseagentur getan. Die Rheinische Post hat dazu am 16.07.2023 berichtet. Die Aussagen dieser beiden Personen enthalten einige Formulierungen, die es sich genauer anzusehen lohnt.

Joachim Herrmann möchte sich, so heißt es, mit seinen Länderkollegen für „die erforderliche härtere Bestrafung krimineller Klimaaktivisten“ einsetzen. An dieser Aussage sind mehrere Aspekte bemerkenswert: 1. Es gibt, in seinen Augen, kriminelle Klimaaktivist*innen. Aber wer sind diese? Geht es dabei nur um die Gruppe der Letzten Generation oder sind auch andere Klimaaktivist*innen kriminell? Es ist also unklar, wer gemeint ist. 2. Es gibt Klimaaktivist*innen, die kriminell sind. Sicherlich gibt es kriminelle Klimaaktivist*innen, wie es auch kriminelle Lehrer*innen, kriminelle Politiker*innen oder kriminelle Polizist*innen gibt. Irgendein*e Klimaaktivist*in wird sicherlich einmal etwas geklaut haben oder gar eine Vorstrafe aufweisen. Aber das meint Herrmann nicht, wenn er von ‚kriminellen Klimaaktivisten‘ spricht. Er bewertet damit das Engagement der Klimaaktivist*innen, bzw. die Mittel, die sie für ihre Aktivitäten wählen, als kriminell. Das ist eine gewagte Einschätzung, Gerichte und Strafverfolgungsbehörden sind da nicht unbedingt auf seiner Seite. Hier ein Artikel aus der Süddeutchen Zeitung zu diesem Thema. 3. Härtere Strafen für kriminelle Klimaaktivist*innen sind nötig. Dies bedeutet, dass die bestehenden Strafen nicht ausreichen würden. An welchen Stellen müssen Strafen härter werden? Und zu welchem Grad müssen sie härter werden? Die Intention hinter einer solchen Verschärfung dürfte sein, dass härtere Strafen Klimaaktivist*innen vor weiteren Aktionen abschrecken sollen. 4. Härtere Strafen sind erforderlich. Warum sollten härtere Strafen erforderlich sein? Sicherlich, weil weitere Proste auf diese Weise abgewürgt werden sollen. Herrmanns Aussage verbleibt an vielen Stellen im vagen und ist an ebenso vielen Stellen angreifbar.

Das koordinierte juristische Vorgehen gegen die Letzte Generation ist aber nur eines der Ziele von Herrmann. Er will auch, dass Blockaden – gemeint sind wohl vor allem Straßenblockaden – schneller beseitigt werden können. Seine Motivation ist: „Je geringer die Auswirkungen, desto geringer der „Erfolg“ der Aktivisten und letztlich auch der Ärger in der Bevölkerung.“ An dieser Stelle hat Herrmann die Letzte Generation klar missverstanden. Ihr Ziel ist nicht die Blockade, sondern unter anderem die Einführung eines bundesweiten 9 Euro-Tickets. Der Letzten Generation geht es um Klimaschutz und nicht um möglichst lange Straßenblockaden. Herrmann stellt die Straßenblockaden als einen Selbstzweck dar, der sie nicht sind. Eine Frage, die offen bleibt, ist, wie sollen Blockaden denn schneller beseitigt werden? Sollen Klimaaktivist*innen stärker überwacht werden, sodass die Polizei unmittelbar zu Beginn einer Aktion vor Ort sein kann? Sollen Autofahrer*innen legitimiert werden, gegen die Klimaaktivist*innen vorzugehen?

Die beiden Äußerungen von Herrmann haben einen Effekt: Der Fokus wird vom eigentlichen Anliegen der Aktivist*innen auf die Wahl ihrer Mittel gelegt und diese werden als kriminell geframt. Statt über Klimaschutz wird somit über härtere Gesetze gegenüber Klimaaktivist*innen gesprochen. Es findet eine Diskursverschiebung statt, die im Falle des Redens von ‚kriminellen Klimaaktivisten‘ auch diffiziler ist, als wenn von ‚Klimaterroristen‘ oder gar einer ‚Klima-RAF‘ gesprochen wird. Dass die Aktivist*innen der Letzten Generation nicht gut unter die Bezeichnung ‚Terroristen‘ fallen, sollte relativ leicht zu erkennen sein. ‚Kriminell‘ ist jedoch eine Eigenschaftszuschreibung, die schwerer zu evaluieren und damit auch schwerer zurückzuweisen ist. Aus meiner Sicht stellt die sprachliche Kriminalisierung der Letzten Generation damit ein effektiveres negatives Framing als die Verwendung von Bezeichnungen wie ‚Klimaterroristen‘ dar. Durch das stetig wiederholte Framing als ‚kriminell‘ wird sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, dass die Aktionen der Klimaaktivist*innen kriminell seien und zwar unabhängig davon, ob Gerichte die Aktionen oder einzelne Aktionen tatsächlich als ‚kriminell‘ bewerten.

Der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, Jochen Kopelke, geht argumentativ in eine ähnliche Richtung. Er spricht davon, dass die Gruppe ‚kriminelle Aktionen‘ betreibe und dies mit einer ‚penetranten Rücksichtslosigkeit‘. Gerade diese Rücksichtslosigkeit ist, so Kopelke, Ursache dafür, dass die Aktionen die Akzeptanz des Klimaschutzes nicht steigern würden. Ist Herr Kopelke wirklich besorgt um die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen? Möglich ist es, aber das Framing – die Aktionen der Letzten Generation sorgen dafür, dass Klimaschutzmaßnahmen an Akzeptanz verlieren – wird von Wissenschaftler*innen nicht unterstützt (hier ein Artikel zu diesem Thema auf tagesschau.de). Klar, die Letzte Generation kann mit ihren Aktionen sicherlich nicht Klimawandelskeptiker*innen überzeugen, aber die Aktionen halten das Thema Klimakrise konstant in der öffentlichen Wahrnehmung und machen deutlich, mit welcher Härte Vertreter*innen bestimmter politischer Positionen gegen Klimaaktivist*innen bereit sind vorzugehen.

Sollte Herr Kopelke tatsächlich um die Akzeptanz von Klimaschutzmaßnahmen besorgt sein, dann wäre es sicherlich hilfreicher, er würde die Aktionen der Letzten Generation nicht als ‚kriminell‘ und die Gruppe nicht als ‚penetrant rücksichtslos‘ bezeichnen. Das konstante negative Framing von Klimaaktivist*innen, das unkritisch in einigen Medien aufgegriffen wird, ist möglicherweise problematischer für die Akzeptanz möglicher Maßnahmen als die Aktionen der Letzten Generation. Aber ich gebe zu, dies sollten geeignete Wissenschaftler*innen mit empirischen Methoden überprüfen und weder spekulativ von mir oder dem Vorsitzen der Polizeigewerkschaft behauptet werden.

Kleine Randbemerkung: dass sich einzelne Polizeibeamte oder -beamtinnen bei der Letzten Generation engagieren sollen, sieht Herr Kopelke kritisch. Dazu äußert er sich wie folgt: „Ein solches Engagement ist hochproblematisch, dienstrechtliche Konsequenzen hochwahrscheinlich.“ Ähnliche Formulierungen wünscht mensch sich da natürlich auch bezüglich der Mitgliedschaft von Polizist*innen in rechten Chatgruppen.

In dem Artikel der Rheinischen Post werden auch Äußerungen weiterer Politiker*innen angeführt. Interessant ist da noch eine Äußerung von Claudia Roth, die folgendermaßen wiedergegeben wird: „Mit Blick auf frühere Aktionen, bei denen Lebensmittel auf Kunstwerke geschmiert worden waren, sagte sie, wenn sich die Debatte um die fragwürdigen Aktionsformen der Gruppierung drehten, überlagere dies die wichtige Diskussion über Maßnahmen gegen die Klimakrise“. Es stimmt schon, dass es sinnvoller wäre, wenn über konkrete Klimaschutzmaßnahmen und nicht über die Aktionsformen der Letzten Generation gesprochen werden könnte. Aber dies ist kein Vorwurf, der der Letzten Generation gemacht werden kann. In diesem Kontext sollte der Fokus weg von den Aktionen der Letzten Generation und hin auf die Reaktionen, die diese Aktionen hervorrufen, gelegt werden. Wir erleben eine immense verbale Kriminalisierung, in der Politiker verschiedenster Parteien und auch Vertreter der Polizei Klimaaktivist*innen gemeinsam als kriminell framen.

Zurück zum Ausgangspunkt: welche Rolle spielen Äußerungen von Politiker*innen und Polizist*innen bezüglich Klimaaktivisten und Klimaaktivismus? Insbesondere Politiker*innen, gerade dann, wenn sie ein ministerielles Amt ausüben, wirken durch ihre Äußerungen auf den öffentlichen politischen Diskurs ein. Sie machen politische Aussagen und sprechen mit diesen natürlich auch ihre (potentielle) Wählerschaft an. In Bayern stehen in nicht nähere Zeit Landtagswahlen an, daher lassen sich Forderungen nach repressive Maßnahmen gegen Klimaaktivist*innen unter den Oberbegriff ‚Law & Order‘ subsumieren, ein Feld in dem sich CDU und CSU seit jeher gerne profilieren. Die Äußerungen des Vorsitzenden der Gewerkschaft der Polizei sind, meiner Meinung nach, besonders kritisch zu sehen. Zwar entscheiden Polizist*innen nicht, was als ‚kriminell‘ gilt, aber gemeinhin würde mensch ihnen doch eine gewissen Kompetenz bezürlich dieses Themenbereichs zusprechen. Wenn nun nicht nur irgendein Polizist sondern der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei sagt, dass die Aktionen der Letzten Generation kriminell seien, dann steht das Gewicht der deutschen Polizei hinter einer solchen Aussage. Dies wirkt auf Menschen, auch auf die, die als Polizist*innen direkt mit der Letzten Generation zu tun haben.

Neben dem Aspekt, dass die oben genannten Personen einen besonderen Status im öffentlichen Diskurs haben (vermeindliche Kompetenz, Reputation), ist die aktuelle Debatte über die Letzte Generation unter zwei Gesichtspunkten sehr kritisch zu sehen. Erstens werden gerne allgemeine Formulierung der Form ‚die kriminellen Klimaaktivist*innen‘ verwendet, wobei nicht klar ist, ob damit nicht eventuell alle Klimaaktivist*innen gemeint sein sollen (die Formulierung lässt es jedenfalls zu). Zweitens wird von ‚Kriminellen‘ und nicht mehr von ‚Terrorist*innen‘ gesprochen. Dies ist diffiziler und nicht so offensichtlich falsch wie die Bezeichnung ‚Klimaterrorist*innen‘. Damit erregt eine solche Formulierung möglicherweise weniger Widerspruch und wird eher akzeptiert als eine Bezeichung wie ‚Klimaterrorist*in‘. Daher finde ich diese verbale Kriminalisierung als durchaus gefährlicher als leichter zu durchschauende Terrorist*innenframing.

Nachtrag: Zu diesem Thema habe ich ein Radiointerview bei Radio Dreyeckland gegeben, hier der Link zum Beitrag.

Klimaneutral mit Verbrennungsmotor

Greenwashing beim Logistikunternehmen GLS

Ein Kleintransporter eines Logistikunternehmens mit der Aufschrift „GLS versendet alle Ihre Pakete 100% klimaneutral“. Durch Großdruck ist „100% klimaneutral“ hervorgehoben. Als ich dann sah, dass es sich bei dem Fahrzeug um einen VW Crafter – also einen kleineren LKW mit Verbrennungsmotor – handelt, fragte ich mich, was denn „100% klimaneutral“ hier bedeuten soll.

Wie kann GLS 100 klimaneutral sein, wenn die Lieferfahrzeuge der Firma mit Verbrennungsmotor fahren? Auf der Homepage der Firma findet sich eine Erklärung, wie „100% klimaneutral“ zu verstehen sind. Dort heißt es: „Mit Klima Protect stellen wir Pakete sowohl in Deutschland als auch im Ausland klimaneutral durch Kompensation zu.“ GLS will also Klimaneutralität durch Kompensation erreichen. Die verursachten CO2-Emissionen sollen durch die Investition in bestimmte Projekte ausgeglichen werden.

Bezüglich der Kompensationsprojekte ist GLS transparent und gibt an, dass sie Waldschutz und den Ausbau erneuerbarer Energien unterstützen. Konkreter: GLS unterstützt den Ausbau von Windenergie in Indien, zwei Waldschutzprojekt im Amazonas, die ein Abholzen des Regenwalds verhindern sollen, sowie ein Solarenergieprojekt. Das sind tolle Projekte und wenn GLS tatsächlich zur Finanzierung dieser Projekte beiträgt, finde ich das prima. Aber ist es legitim zu behaupten, dass GLS Pakete wirklich klimaneutral zustellen würde?

Wie stelle ich mir ganz naiv Klimaneutralität vor? Im Idealfall bezeichnet ‚klimaneutral‘ einen Vorgang, der bezüglich der CO2-Emissionen neutral ist. Darunter würde ich verstehen, dass dieser Vorgang keine CO2-Emissionen verursacht. Die Paketzustellung würde also mit 0 (= Null) CO2-Emissionen erfolgen. Auf die reine Zustellung bezogen: keines der seitens von GLS beteiligten Fahrzeuge verursachte CO2-Emissionen. Das wäre möglich, wenn die gesamte GLS-Flotte aus Elektrofahrzeugen bestünde, die zum Beispiel Solarstrom tanken. Da GLS aber Fahrzeuge mit Verbrennermotor in der Flotte halt, ist dieses Verständnis von ‚Klimaneutralität‘ zu strikt.

‚Klimaneutralität‘ könnte auch bedeuten, dass es Maßnahmen gibt, die eine direkte CO2-Aufnahme im Umfang des emittierten CO2 verursachen. Dies könnte beispielsweise in Aufforstungsprojekten bestehen, sodass eine entsprechende Menge Bäume, die das emittierte CO2 binden, gepflanzt werden. Damit gäbt es ein Gleichgeweicht zwischen CO2-Ausstoß und der CO2-Aufnahme. Aber die von GLS angeführten Projekte sind keine Aufforstungsprogramme. Zwar schützen die von GLS unterstützten Programme den Regenwald, aber dadurch wird nicht unmittelbar mehr CO2 gebunden. Genauso sieht es mit den Ökostromprojekten aus. Auf diese Weise kann CO2-neutral Strom erzeugt werden, ob aber wirklich ein Ausgleich in der CO2-Bilanz stattfindet – also soviel CO2 eingespart wird, wie GLS emittiert hat – , ist eine ganze andere Frage. Der Ausbau erneuerbarer Energieproduzenten kann dazu führen, dass fossile Kraftwerke weniger gebraucht und damit deren Emissionen zurückgefahren werden. Aber diesnergibt sich nichts zwangsweise. Eventuell kommen die Windräder auch nur als zusätzliche Stromproduzenten hinzu, sodass sich kein Rückgang mit den Emissionen ergibt.

Die von GLS unterstützten Projekte mögen ökologisch sinnvoll sein, sie gleichen aber nicht direkt die CO2-Emissionen der Firma aus. An keiner Stelle folgt unmittelbar, dass CO2-Einsparungen oder gar eine CO2-Aufnahme auf dem gleichen Niveau entsprechend der GLS-Emissionen folgt. Die Bezeichnung „100% klimaneutral“, die GLS sich selbst gibt, trifft nicht zu.

Aber es gibt noch eine dritte Möglichkeit, wie ‚Klimaneutralität‘ zu verstehen sein könnte. Das ist die Kompensation von CO2-Emissionen in einem Sektor durch Investitionen in einem anderen Sektor, zum Beispiel der Investition in Windparkanlagen. Dies ist das Verständnis, das zum Beispiel auch das Europaparlament hat. Das Problem dabei ist: GLS emittiert weiterhin CO2 und investiert in Projekte, die nicht zwingend eine Verminderung von CO2-Emissionen nach sich ziehen. Netto kann es am Ende bedeuten, dass GLS seine eigenen Emissionen ausgleichen kann. Es muss aber nicht sein, dass die Klimakompensation im vollen Umfang zur Aufnahme von CO2 im von GSL emittierten Umfang beiträgt. Der Schutz des Amazonas – so wichtig dies auch ist – ist nicht dasselbe wie eine Wiederaufforstung. Der Bau von Windkrafträdern muss nicht dazu führen, dass irgendwie in Indien CO2-Emissionen reduziert werden. Dann sieht es mit der Netto-Null bei GLS deutlich kritischer aus. Diese Form der Klimakompensation ist damit kompatibel, dass am Ende mehr statt weniger CO2 in der Atmosphäre ist. Das ist alles, aber sicherlich nicht klimaneutral.

Klimakompensation ist zudem eine Strategie, die suggeriert, dass klimaschädliche Technologien bedenkenlos weiterverwendet werden können, wenn an anderer Stelle dafür Klimaschutzprojekte unterstützt werden. Auf diese Weise lassen sich die schlimmsten CO2-Emittenten, wenn sie denn nur Klimakompensation betreiben, als klimaneutral bezeichnen. Tatsächlich bedarf es aber der Reduktion von CO2-Emissionen und nicht ihres Ausgleichs. Wir brauchen den Schutz des Amazonas sowie Ökostrom, aber ohne, dass im Ausgleich dafür Logistikunternehmen weiterhin CO2 emittieren dürfen.

GLS geht einen üblichen Weg, in dem das Label ‚klimaneutral‘ mit Klimakompensation in zertifizierten Umweltprojekten verknüpft ist. Der Begriff ‚klimaneutral‘ meint jedoch in diesem Kontext nicht, dass ein Vorgang wie die Paketzustellung wirklich neutral im Bezug auf klimaschädliche Emissionen ist. Denn das, was GLS an CO2 emittiert, wird nicht (im gleichen Ausmaß) der Atmosphäre wieder entzogen. Mit dem Label ‚Klimaneutralität‘ wird greenwashing betrieben, mit dem Unternehmen sich ein ökologisches Image geben trotz klimaschädlichem Verhaltens geben können. 

Das Label ‚klimaneutral‘ hat bereits in der Vergangenheit die Wettbewerbszentrale beschäftigt, da es zu einem wichtigen Werbelabel geworden sei. Es muss, so die Wettbewerbszentrale, in der Werbung erkenntlich sein, ob ein Unternehmen die angestrebte Klimaneutralität durch eigene Maßnahmen (Verringerung der Emissionen) oder durch Kompensationsmaßnahmen erreicht. In einer Pressemitteilung der Wettbewerbszentrale dazu heißt es: „Es führt zu Wettbewerbsverzerrungen, wenn Unternehmen, die konventionell weiter wirtschaften und ausschließlich Zertifikate kaufen, ohne weitere Aufklärung mit „klimaneutral“ werben, während andere Unternehmen auch mit „klimaneutral“ werben, aber mit großem Aufwand ihren CO2-Ausstoß erheblich verringert haben.“  

Die Bezeichnung ‚100% klimaneutral‘ empfinde ich als Werbeslogan auf dem Fahrzeug von GLS als irreführend, erst der Blick auf die Homepage macht deutlich, dass GLS Klimaneutralität durch Kompensationsmaßnahmen erreichen will. Vielleicht ist das ausreichend, um das zu beurteilen fehlt mir die nötige Expertise. Aber es zeigt sich, dass bei jedem Unternehmen, das von sich als ‚klimaneutral‘ wirbt, genau hingesehen werden muss, was das Unternehmen denn unter ‚Klimaneutralität‘ versteht, welche Maßnahmen konkret ergriffen werden – und wie diese wirklich zur CO2-Reduktion beitragen – und welche CO2-Emissionen durch dieses Label eigentlich grün gewaschen werden sollen.

Der VDS und die Neue Rechte

„Warum wird eigentlich jeder, der sich gegen Gendern ausspeicht, sofort in die rehte Ecke gestellt?“, so oder zumindest so ähnlich findet sich diese Frage derer, die sich gegen Gendern aussprechen, immer wieder. Sicherlich gehört nicht jede Person, die sich gegen den Gebrauch geschlechtersensibler Sprache ausspricht, in die rechte Ecke. Aber sehr häufig kommt die Kritik am Gendern aus genau dieser Richtung, etwa von der AfD oder dem rechtskonservativen CDU-Politiker Christopher Ploß.

In der gesamten Debatte rund um das Thema Gendern mischt auch der Verein für deutsche Sprache (VDS) mit. Stefan Hartmann – Juniorprofessor für germanistische Sprachwissenschaft – attestiert dem VDS auf www.volksverpetzer.de eine rechtspopulistische Agenda. Damit ist schon vieles gesagt, ein bisschen lässt sich aber noch hinzufügen.

Auf der Homepage des VDS gibt es die Rubrik ‚Arbeitsgruppen‘, darin die Unterkategorie ‚Deutsch in der Politik‘. Für einzelne Parteien werden Positionen zu sprachpolitischen Themen wiedergegeben, die jedoch nicht die offizielle Position der Partei ist, sondern die der jeweiligen Gruppenleiter. Dieser Gruppenleiter sind – so wie ich das überblicke – Mitglieder der jeweiligen Parteien und zugleich Mitglied beim VDS.

Gruppenleiter für die AfD ist Martin Louis Schmidt, der für die AfD Mitglied im Landtag von Rheinland-Pfalz ist. Was schreibt Schmidt auf dieser Seite des VDS? Die Grundidee, die vertreten wird, ist, dass die deutsche Sprache durch das Grundgesetzt geschützt werden muss. Es wird gegen eine falsch verstandene Internationalisierung gewettert, womit der Gebrauch des Englischen an z.B. deutschen Universitäten abgelehnt wird. Außerdem wird sich gegen das „Gender Mainstreaming“ ausgesprochen, das „im Rahmen eines undemokratischen familienfeindlichen Gesellschaftsexperiments stattfindet. Die mit der teilweisen Leugnung der biologischen Geschlechter zugunsten sogenannter ’sozialer Geschlechter‘ einhergehenden begrifflichen und grammatikalischen Kunstgriffe sind in unseren Augen nicht zuletzt sprachästhetische Vergewaltigungen“.

Schmidts Textchen ist eine Paradebeispiel des Rechtspopulismus. Neben seiner Tätigkeit als Politiker ist Schmidt auch journalistisch tätig und war in den 1990er Jahren stellevertretender Chefredakteur der Jungen Freiheit, einer Zeitung der Neuen Rechten. Nicht nur das ein prominentes Mitglied der Neuen Rechten Mitglied beim VDS ist, der VDS duldet auch offensichtlich rechtspopulistische Positionen auf seiner eigenen Homepage.

Sieht es denn vielleicht bei anderen Parteien – sagen wir den Grünen – besser aus? Für die Grünen ist der Mitbegründer der Grünen Rolf Stolz der entsprechende Gruppenleiter beim VDS. Inhaltlich geht es bei Stolz vor allem darum, dass der Ressortleiter die Vermischung von Deutsch und Englisch ablehnt. „Gehirnwäsche per ‚Greeenwashing‘ (sic!) und ‚Veggie Day‘ – nein danke!“, ist auf der Homepage zu lesen.

Stolz, der sich selbst wohl als links ansieht, gehört doch irgendwie auch der Neuen Rechten an. Nicht nur ist er als Autor für die Neue Freiheit aktiv, sondern auch für das Magazin Compakt, das der Verfassungsschutz als ‚gesichert rechtsextrem‘ einstuft. Somit gibt es ein zweites Mitglied der Neuen Rechten, die im VDS aktiv ist und das nicht nur als Gruppenleiter sondern auch als Referent (für was eigentlich?).

Klar, nicht jede Person, die sich gegen Gendern ausspricht, ist rechts. Aber wer in seinen Reihen Vertreter – hier verwende ich bewusst die maskuline Form – der Neuen Rechten operieren lässt, der muss sich zumindest denn Vorwurf gefallen lassen, dass eine Abgrenzung nach rechts zumindest nicht erfolgt. Aber nicht nur das, der VDS bietet der Neuen Rechten ein Forum, dem viele Menschen, die sich wahrscheinlich sonst von der Neuen Rechten abgrenzen würden – Hape Kerkeling, Dieter Hallervorden – , einen bürgerlichen Anschein geben.

Wenn sich der VDS nicht von der Neuen Rechten abgrenzt, dann sollten sich die Mitglieder des VDS von diesem Verein abgrenzen, wenn sie nicht mit in die rechte Ecke gestellt werden wollen.

Nachtrag 30.05.2023: Rolf Stolz ist seit längerem bei den Grünen umstritten, wie schön in diesem Artikel der TAZ nachzulesen ist.

Heinrich Heine, guillotinieren und die moderne Sprachwissenschaft

Heinrich Heines (ungewollter) Beitrag zur Verbsemantik

Was hat Heinrich Heine – Namenspatron der Düsseldorfer Universität – mit moderner Sprachwissenschaft zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Trotzdem kann man Heine, bzw. sein ‚Wintermärchen‘, elegant in aktuelle Debatten im Bereich der Verbsemantik einbringen.

Als ich vor rund zehn Jahren – also 2013 – meiner späteren Vermieterin sagte, dass ich Sprachwissenschaftler sei und mich mit Verbsemantik beschäftigen würde, entgegnete sie: „Prima, dann können Sie mir sagen, ob ich die Verben in meinen Gedichten richtig verwende“. Die gute Dame las mir dann noch über eine Stunde selbstgeschriebene, holprige Gedichte vor, aber ich musste glücklicherweise als Sprachwissenschaftler keine Stellung zur richtigen Verbverwendung beziehen. Auch wenn ich die Äußerung der Dame im ersten Moment etwas absurd fand, so muss ich doch zugestehen, dass dies eine Fragestellung ist, der Sprachwissenschaftler*innen durchaus nachgehen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks kann durch die Verwendungskontexte, in denen dieser Ausdruck vorkommen kann, bestimmt werden.

In welchen Verwendungskontexten kann zum Beispiel das Verb töten vorkommen? Ist es möglich zu sagen: ‚Lee Harvey Oswald tötete Kennedy, Kennedy ist aber nicht tot‘? Wenn es in beiden Fällen derselbe Kennedy ist, dann funktioniert dies nicht gut. Das Verb töten impliziert, dass die Person, auf die sich das Objektargument bezieht, am Ende tot ist. Sprachwissenschaftler*innen sprechen davon, dass töten ein sogenannten Resultatsverb ist, denn es bezeichnet das Resultat – ‚tot sein‘ – einer Handlung.

Das Verb töten sagt also etwas über das Resultat einer Handlung aus, aber wie wird diese Handlung ausgeführt? Töten kann auf sehr unterschiedliche Weisen erfolgen, zum Beispiel mit einem Schwert. Wird eine Person mit einem Schwert getötet, dann bedeutet dies, dass diese Person erschlagen oder erstochen wurde. Alternativ kann aber auch mit einer Pistole getötet werden, wobei dann durch einen Schuss aus der Pistole oder einen Schlag mit der Pistole getötet wurde. Es sind verschiedene Arten des Tötens denkbar, das Verb töten ist mit (vermutlich) allen kompatibel. Damit ist töten kein Verb der Art und Weise, da es  in seiner Bedeutung die Art und Weise der Handlung nicht festlegt.

Andere Verben sind anders. Viele Verben legen in ihrer Bedeutung die Art und Weise einer Handlung, aber kein Resultat fest. Hüpfen, tanzen, steppen, springen sind Verben, die eine bestimmte Art der Bewegung bezeichnen. Sich hüpfend bewegen ist eine andere Form der Bewegung als sich springend, tanzend oder steppend zu bewegen. Die Bewegungen können auf der Stelle ausgeführt werden, wichtig ist aber. Das Ziel der Bewegung musss explizit gemacht werden in die Bücherei hüpfen/ tanzen/ steppen/ springen. Nicht das Verb, sondern die Präpositionalphrase – in die Bücherei – gibt das Resultat – also das Ziel der Bewegung – an.

Verschiedene Linguist*innen haben die Hypothese aufgestellt, dass Verbbedeutungen nicht beliebig komplex sein können. Ein Verb ist entweder ein Resultatsverb oder ein Verb der Art und Weise. Verben, die in ihrer Bedeutung sowohl ein Resultat als auch die Art und Weise der Erreichung des Resultats kodieren, soll es nicht geben.

John Beavers und Andrew Koontz-Garboden, zwei amerikanische Sprachwissenschaftler, haben diese Hypothese angezweifelt. Es gibt Verben, so die beiden, die sowohl ein Resultatkomponente als auch eine Art und Weise-Komponente in ihrer Bedeutung beinhalten. Als Beispiele führen sie Verben des Tötens an. Leider gehört töten selbst gerade nicht in diese Klasse aber dafür englische Verben wie guillotine auf Deutsch guillotinieren oder electrocude,das man auf Deutsch als ‚durch einen Stromschlag/ auf dem elektrischen Stuhl töten‘ übersetzen kann. Diese Verben drücken aus, dass eine Person am Ende tot ist und sagen zusätzlich etwas darüber aus, wie dieses töten erfolgt.

Das Deutsche hat auch einige Verben, die in diese Klasse gehören. Aber die meisten dieser Verben sind komplex und enthalten zum Beispiel das Präfix er-, wie in erdolchen ‚mit einem Dolch töten‘, erwürgen ‚durch Würgen töten‘ oder erschießen ‚durch Schießen töten‘. Nun kommt aber dann endlich Heinrich Heine ins Spiel. Heine hat sehr schön darauf hingewiesen, dass es Verben gibt, die einerseits nicht komplex sind und anderseits Resultat und Art und Weise in ihrer Bedeutung spezifizieren.

In „Deutschland ein Wintermärchen“ reist der Ich-Erzähler durch Deutschland und trifft irgendwann auf Barbarossa, der seit längerer Zeit in einer Höhle ruht und daher die neuesten Entwicklungen in Deutschland und der Welt verpasst hat. Er lässt sich dann erst einmal auf den aktuellen Stand bringen und die Rede kommt dann auf die neueste Mode aus Frankreich – guillotinieren:  

Der Kaiser blieb plötzlich still stehn,
Und sah mich an mit den stieren
Augen und sprach „Um Gottes willn,
Was ist das, guillotinieren?“
Das Guillotinieren – erklärte ich ihm –
Ist eine neue Methode,
Womit man die Leute jeglichen Stands
Vom Leben bringt zu Tode.
Bei dieser Methode bedient man sich
Auch einer neuen Maschine,
Die hat erfunden Herr Guillotin,
Drum nennt man sie Guillotine.
Du wirst hier an ein Brett geschnallt; –
Das senkt sich; – du wirst geschoben
Geschwinde zwischen zwei Pfosten; – es hängt
Ein dreieckig Beil ganz oben; –
Man zieht eine Schnur, dann schießt herab
Das Beil, ganz lustig und munter; –
Bei dieser Gelegenheit fällt dein Kopf
In einen Sack hinunter.

(Heinrich Heine: Deutschland ein Wintermärchen, Caput XVI; https://www.projekt-gutenberg.org/heine/wintmrch/wintmr16.html)

Heine beschreibt das Guillotinieren sehr klar als auf eine bestimmte Art und Weise zu töten. Damit hat Heine aufgezeigt, dass es Verben gibt, die sowohl ein Resultat als auch eine Art und Weise spezifizieren. Und das auch noch einige Jahrzehnte bevor diese Frage in der modernen Sprachwissenschaft überhaupt auf Trapez kam. Heine argumentiert zwar nicht sprachwissenschaftlich, seziert die Verbbedeutung von guillotinieren aber trotzdem sehr treffend.

Zur Komplementarität von Resulats- und Art und Weise-Komponenten gibt es zahlreiche Aufsätze. Hier nur ein paar Quellenangaben:

Rappaport Hovav, Malka & Beth Levin. 2010. Reflections on Manner/Result Complementarity. In Malka Rappaport Hovav, Edit Doron & Ivy Sichel (Hrsg.). Lexical Semantics, Syntax, and Event Structure. Oxford: Oxford University Press. Seiten: 21-38.

Beavers, John & Andrew Koontz-Garboden. 2012. Manner and Result in the Roots of Verbal Meaning. Linguistic Inquiry 43 (3): 331-369.