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Generisches Maskulinum: Was ist das?

Konzeptuelle Unterspezifikation und Äußerungsbedeutung

Wenn mensch in die (sozialen) Medien schaut, dann scheint das wichtigste sprachpolitische Thema zu sein, ob geschlechtergerechte Sprache (das sogenannte ‚Gendern‘) verboten werden sollte oder nicht. Einzelne Bundesländer verbieten in bestimmten öffentlichen Bereichen die Verwendung geschlechtergerechter Sprache, Petitionen gegen ihre Verwendung werden gestartet, rechte Gruppen und Sprachvereine kritisieren lautstark und medienwirksam alle Formen der Verwendung geschlechtergerechten Sprache. Ein Argument ist in der Regel, dass wir geschlechtergerechte Sprache gar nicht brauchen würden, denn sie würde Sprache unnötig sexualisieren. Immerhin gäbe es doch das ‚generische Maskulinum‘, das alle Geschlechter mit meint.

Auf der Intersetseite des Verein für deutsche Sprache heißt es beispielsweise: “ „Der ‚Engel‘ ist per Definition geschlechtslos, ein ‚Schelm‘ kann genauso eine Frau sein wie eine ‚Dumpfbacke‘ ein Mann“, erklärt Krämer, „die vom Duden betriebene Zwangs-Sexualisierung der deutschen Sprache widerspricht den Regeln der Grammatik sowie dem allgemeinen Sprachgebrauch.“ Engel und Schelm werden als Beispiele für sogenannte generische Maskulina angeführt. Aber was steckt eigentlich hinter diesem Begriff?

In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff ‚generisches Maskulinum‘ gerne verwendet, aber häufig mit fehlender sprachwissenschaftlicher Präzision. Um aber entscheiden zu können, aber die Argumente bezüglich des ‚generischen Maskulinums‘ sprachwissenschaftlich haltbar sind oder nicht, muss dieser Begriff auch auf ein solides wissenschaftliches Fundament gestellt werden. Oft genug habe ich es in Diskussionen mit ‚Genderkritikern‘ erlebt, dass einerseits den Verfechter*innen der Verwendung geschlechtergerechter Sprache falsche Unterstellungen bzgl. des maskuliner Nomen gemacht werden („Ihr sagt, dass das Nomen Richter sich nur auf Männer beziehen kann“), anderseits treffen die Argumente, die zur Verteidigung eines ‚generischen Maskulinums‘ vorgebracht werden, oftmals das Thema nicht. Also: was ist denn das vermeintliche ‚generische Maskulinum‘ und was ist das damit verbundene Problem?

Unter einem ‚generischen Maskulinum‘ werden Nomen, die grammatikalisch maskulin sind (d.h., dem Genus ‚Maskulin‘ angehören) und ‚generisch‘ – also ganz generell – referieren, verstanden. Ein Beispiel ist Der Richter betrat den Raum. Das Nomen Richter ist maskulin. Das Genus eines Nomens erkennen wir im Deutschen nur in seinem grammatikalischen Verhalten. Relevant ist die sogenannte Kongruenz. Wenn wir die Nomen Richter, Katze, Fahrzeug vergleichen, dann sehen wir, dass sie unterschiedliche Endungen beim definiten Artikel (d-er Richter, d-ie Katze, d-as Fahrzeug) verlangen. Ebenso aber auch beim indefiniten Artikel und beim Adjektiv (ein groß-er Richter, ein-e groß-e Katze, ein groß-es Fahrzeug).

Genus ist eine grammatikalische Klassifikation von Nomen und eine Streitfrage ist, ob das Genus vom Sexus des nominalen Referenten abhängt. Mit ‚maskulin‘ ‚’feminin‘, ’neutrum’‘‘ beziehen wir uns auf unterschiedliche Werte einer grammatikalischen Kategorie. ‚Männlich‘ und ‚weiblich’‘‘ – wenn wir einfach einmal binär verbleiben – repräsentieren Werte der Kategorie Sexus. Das Sexus ist keine Eigenschaft des Nomens – anders als Genus –, sondern eine Eigenschaft des Referenten des Nomens. Der Referent ist der oder das, worauf sich das Nomen in der Welt bezieht. Nicht alle Dinge in der Welt haben ein Sexus. Ein Tisch ist weder männlich noch weiblich, ebenso eine Tasse. Entsprechend ist klar, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem nicht-vorhandenen Sexus der Referenten von Tisch und Tasse und dem Genus der Nomen geben kann. Sexus spielt nur für einen Teilbereich der Nomen eine Rolle und zwar für die Nomen, deren Referenten belebt sind. Aber auch da spielen nicht alle Nomen eine Rolle, denn das Geschlecht vieler Tiere ist und (sprachlich) vollkommen egal. Relevant ist der Teilbereich derjenigen Nomen, die sich auf Menschen, höhere Säugetiere und Nutztiere bezieht.

Richter ist nun ein Nomen, das menschliche Referenten hat. Die Annahme eines ‚generischen Maskulinums‘ sagt nun aus, dass Der Richter betritt den Raum bedeuten kann, dass auch ein weiblicher Richter den Raum betritt. Dem muss man nicht widersprechen. Die Frage ist nicht, was das Nomen Richter bedeutet, sondern wie es im Kontext verstanden wird.

In der Semantik, dem Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich mit Bedeutung auseinandersetzt, sagt man, dass das Nomen Richter ‚konzeptuell unterspezifiziert‘ ist. Es bedeutet: ‚eine Person, die den Richterberuf ausübt‘. Das ist soweit damit kompatibel, dass der Satz Der Richter betrat den Raum bedeuten kann, dass ein männlicher Richter oder eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Richterin ist dagegen ein Nomen mit einer spezifischeren Referenz, denn es bedeutet: ‚weibliche Person, die den Richterberuf ausübt‘. Damit referiert Richterin nur auf Frauen und der Satz Die Richterin betrat den Raum kann auch nur bedeuten, dass eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Dadurch, dass Richter konzeptuell unterspezifiziert ist – dieser Begriff ist gegenüber ‚generisch‘ zu bevorzugen, da adäquater – muss im Kontext interpretiert werden, wer der Referent von Richter sein kann. Wenn wir in einem Gerichtsaal sitzen und eine Person in schwarzer Robe durch die neben dem Richtertisch befindliche Tür den Raum betritt, dann ist klar, auf wen sich Richter bezieht: auf die Person, die gerade den Raum betrat. Wir besitzen in diesem Fall visuelle Evidenz, die es uns erlaubt, die Referenz des Nomens eindeutig zu bestimmten und damit die konzeptuelle Unterspezifikation aufzulösen. ‚Konzeptuelle Unterspezifikation‘ bedeutet also, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht vollkommen spezifiziert ist. Im Fall von Richter gibt es keine in der Bedeutung des Nomens verankerte Geschlechtsspezifikation. Anders, wie gesagt, bei Richterin, da das -in das Geschlecht des Referenten eindeutig auf ‚weiblich‘ festlegt.

Was machen wir aber, wenn wir keine solchen Hinweise haben? Wenn wir in der Zeitung beispielsweise lesen Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt? Der Satz kann bedeuten ‚drei Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Dies wäre die Lesart, die in der Diskussion gerne als ‚generisch‘ bezeichnet wird. Es kann aber auch bedeuten ‚drei männliche Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Die Interpretation, dass es sich um drei weibliche Personen handelt, ist auch möglich. Da wir aber eine spezifische Form haben, die die Referenz auf weibliche Personen erlaubt, ist dies zwar möglich, aber die sprachlich nicht präferierte Form.  

Der Streit um das sogenannte ‚generische Maskulinum‘ zielt auf die Interpretation von Nomen wie Richter ab und nicht auf ihre Bedeutung. Diejenigen, die sich für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache einsetzen, sagen, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tendenziell als ‚drei männliche Richter‘ interpretiert wird. Diejenigen, die sich für die Verwendung des ‚generischen Maskulinums‘ und die Ablehnung geschlechtergerechter Sprache aussprechen, argumentieren, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tatsächlich ‚drei bezüglich ihres Geschlechts nicht näher spezifizierte Richter‘ bedeutet. Es geht also darum, wie Menschen einen solchen Satz interpretieren. Damit bewegen wir uns nicht auf der Ebene der Wortbedeutung, sondern auf der Ebene der Interpretation eines Nomens im Satzkontext.  

Die Interpretation ist durch verschiedene Faktoren beeinflusst, unter anderem durch den sprachlichen Kontext (welche anderen sprachlichen Formen werden noch verwendet), aber auch durch unser Weltwissen. Zum Weltwissen gehören bestimmte Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wenn ich die Erfahrung habe, dass nur Männer Fußball spielen, dann interpretiere ich Der Fußballer brach sich ein Mann eher als ‚der männlicher Fußballer‘. Eine geschlechtsunspezifische Interpretation ist dann wenig naheliegend (obwohl möglich). Aber auch Geschlechterstereotype spielen bei der Interpretation eine Rolle. Es gibt gesellschaftlich kolportierte Geschlechtervorurteile, etwa ‚Männer sind mutig und Frauen hübsch‘. Solche Adjektive können zum Beispiel einen Einfluss auf die Interpretation haben. Wer mag sich wohl – und warum – eher von den folgenden fiktiven Stellenausschreibungen angesprochen fühlen? Welche Personen würden Sie hinter den bezeichneten Stellen eher erwarten: Männer, Frauen, egal?Suchen einen mutigen Mitarbeiter für die Nachtschicht‘ versus Suchen hübschen Mitarbeiter für die Nachtschicht.

Aber auch Grammatik wirkt sich auf die Interpretation auf. Nomen, deren Referenten männlich sind, sind tendenziell Maskulina. Ausnahmen sind in diesem Bereich kaum vorhanden. Nomen, deren Referenten weiblich sind, tendieren dazu Feminina zu sein. Das bekannte Gegenbeispiel Mädchen ist gut erklärbar, denn Diminutiva (Nomen, die mit -chen oder -lein enden) sind immer Neutra (das Richterlein, das Männchen). Trotzdem können wir beobachten, dass auch Mädchen als feminines Nomen behandelt wird. Wenn wir einen Satz wie Ein Mädchen klingelte an der Tür haben, dann können wir als Pronomen sowohl es (Es hatte lange Haare)oder sie (Sie hatte lange Haare) verwenden.Die Verwendung von es ist grammatikalisch motiviert, die von sie semantisch (der Referent ist weiblich).

Da wir eine Tendenz sehen, dass männliche Referenten durch maskuline Nomen bezeichnet werden, nutzen wir dies auch beim Interpretieren: Der Nomen ist maskulin, also dürfte der Referent männlich sein. Interpretieren ist ein Prozess, der der Hörerende vornimmt. Basierend auf dem, was der Sprechende von sich gibt, stellt der Hörende bestimmte Schlussfolgerungen an. Zum Beispiel: Was bedeutet denn das konzeptuell unterspezifizierte Nomen Richter in dieser konkreten Äußerung? Der Hörende nimmt die Evidenz, die er hat, ergänzt sie durch das vorhandene Weltwissen und stellt dann eine Schlussfolgerung an. Da das Weltwissen zwischen Personen variieren kann, können diese auch zu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Will ein Sprechender den Hörerenden möglichst gut anleiten, sodass keine Fehlinterpretation zustande kommt, dann sollte eine möglichst präzise Formulierung verwendet werden. Die konzeptuelle Unterspezifikation sollte vom Sprechenden bereits aufgelöst sein. Unterspezifikation lädt zur Interpretation ein.

Wenn es um die Verwendung des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘ geht, dann geht es also nicht darum, was ein Nomen an sich bedeutet, sondern wie ein Nomen in einem spezifischen Äußerungskontext von einem bestimmten Hörenden interpretiert wird. Die Forschung hat in verschiedenen Studien herausgearbeitet, welche Faktoren auf die Interpretation einwirken, aber auch, dass die Interpretation nicht generell geschlechtsunspezifisch bei ‚generischen Maskulina‘ ist. Sie lassen sich zwar generisch interpretieren, müssen es aber nicht. Und da liegt das zentrale Problem: Für einige Menschen ist geschlechtsspezifische Interpretation in verschiedenen Kontexten dominierend und dies führt zu Konsequenzen. Passiert dies im Bereich der Berufsbezeichnungen, dann können dadurch bestimmte Stereotype ausgebildet, bzw. verstärkt (Richter sind immer männlich) und zugleich Frauen von der Bewerbung auf bestimmte Stellen abgehalten werden.

Die Semantik kennt eine Unterscheidung zwischen der lexikalischen Bedeutung eines Ausdrucks (‚Ausdrucksbedeutung‘) und seiner Äußerungsbedeutung. Während Richter als lexikalische Bedeutung etwa ‚Person (unspezifischen Geschlechts), die den Richterberuf ausübt‘ hat, stellt die Äußerungsbedeutung die konkrete Interpretation im sprachlichen Kontext dar. Die Diskussion um das ‚generische Maskulinum‘ betrifft die Äußerungsbedeutung maskuliner Nomen (mit belebten Referenten) und nicht ihre lexikalische Bedeutung. Den Streit um das ‚generische Maskulinum‘ lösen wir nicht, indem wir uns über Regeln der Genuszuweisung, die historische Grundlage des Genussystems oder die Bedeutung von Wortbildungsmorphemen streiten, sondern in dem wir die Interpretation von Sprache in konkreten Äußerungskontexten untersuchen. Es geht also darum zu untersuchen, ob es Muster in der subjektiven Interpretation von Nomen in Äußerungskontexten gibt. Wenn ja, welche Interpretation? Und zugleich kann die Frage gestellt werden, ob es irgendwelche weiteren Merkmale (zum Beispiel Geschlecht der interpretierenden Person, Alter, Bildungsstand, Ausdrücke im sprachlichen Kontext) Einfluss auf die Interpretation haben.

Somit ist nun auch klar, wie das vermeintlich ‚generische Maskulinum‘ untersucht werden sollte: experimentell. Wir müssen schauen, wie Menschen in konkreten Äußerungen interpretieren. Aussagen wie ‚Richter ist generisch, denn das Nomen kann sich ja auf Frauen beziehen‘ sind nicht per se falsch, tragen aber nichts zur eigentlichen Diskussion – der Interpretation des Nomens in konkreten Äußerungskontexten – bei. Damit ist auch klar, welche Argumentationen bezüglich des vermeintlich ‚generischen Maskulinums‘ am eigentlichen Thema vorbeigehen und daher in der Debatte um die Verwendung geschlechtergerechte Sprache kein größeres Gewicht bekommen sollten. Im öffentlichen Diskurs finden sich viele lautstarke Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache, deren Argumente den Kern der Sache – die Äußerungsbedeutung von Nomen – nicht trifft. Daher ist es umso wichtiger, dass die linguistischen Grundlagen rund um diese Debatte verstanden sind, damit jede*r in der Lage ist die Qualität der jeweils vorgebrachten Argumentationen einschätzen zu können. Nur auf dieser Grundlage können solide wissenschaftliche Argumentationen von ideologischen Argumentationen unterschieden werden. 

Anmerkung: Dieser Beitrag enthält keine Verweise auf relevante Fachliteratur, gerne kann ich Referenzen zur Verfügung stellen. Bei Interesse einfach eine Email schreiben oder einen Kommentar hinterlassen. Einige Literaturverweise möchte ich an dieser Stelle aber doch (nach und nach) angeben:

Bezüglich des Themas ‚konzeptuelle Unterspezifikation‘ finde ich den Aufsatz Sense Individuation von Dirk Geeraets hilfreich (Geeraets, Dirk. 2015. Sense Individuation. In Nick Riemer (Hrsg.). The Routledge Handbook of Semantics, S. 233-247. Milton Parc: Routledge. )

Geschlechtergerechte Sprache und Leitkultur

Warum ist das Thema ‚Genderverbot‘ gerade so aktuell in der CDU? Greift die CDU nur auf, was so viele Deutsche – angeblich – wünschen? Oder liegt dies vielleicht anderswo begründet? Vielleicht in der Person des aktuellen CDU-Vorsitzenden Friedrich Merz?

Die Antwort auf diese Frage ist vermutlich komplex: Einerseits greift die CDU ein Thema auf, dass in rechts-konservativen Kreisen präsent ist. Die AfD und die noch extremere Rechte wendet sich schon seit längerem gegen den vermeintlichen ‚Genderwahnsinn‘. Dass dieses Thema aber unter Friedrich Merz nun so populär ist – immerhin will die Hessen-CDU eine rechtliche Einschränkung der Verwendung geschlechtergerechter Sprache erwirken – , ist aber kein Zufall.

Im Jahr 2000 hat Friedrich Merz den Begriff der ‚Leitkultur‘ ins Spiel gebracht, in dem Jahr, in dem das novellierte Staatsangehörigkeitsrecht Inkraft trat. Damit war die Möglichkeit einer einfachereren Einbürgerung geschaffen. Mit dem Begriff der ‚Leitkultur‘ wurde die Angst aufgegriffen, dass durch leichtere Einbürgerungen Menschen Deutschen werden könnten, deren Kultur anders ist. In Merz Augen muss somit die Gefahr einer kulturellen Aufsplitterung bestanden haben, der damit begegnet werden sollte, dass die deutsche Leitkultur als Orientierungspfad für alle Deutschen – ob geborene oder eingebürgerte – dienen sollte.

Dass es so etwas wie ein deutsches Wesen gibt, wurde immer wieder behauptet. Wolfgang Bergem arbeitet dies schön heraus und legt dar, dass in der historischen Debatte auch immer wieder die deutsche Sprache als identitätsstiftendes Element – Bergem (Seite 72) spricht von einem vermeintlichen Wesenskern des deutschen Volkes – verstanden wurde. Sprachlicher Wandel wird als kultureller Wandel interpretiert, der in seinem Extrem das Volk bedrohe. Darauf wird seitens der Politik mit verschiedenen Forderungen reagiert. Die AfD forderte die deutsche Sprache in das Grundgesetz aufzunehmen, damit sie besonders geschützt und ihre bedeutende Rolle betont werde. Der CDU-Generalsekretär Mario Czaja forderte eine Deutschpflicht auf Schulhöfen.

Sprachliche Veränderungen werden problematisiert, da sie unmittelbar die kulturelle Identität des Volkes betreffen. Sprachliche Veränderungen werden dabei häufig mit gesellschaftlichen Veränderungen assoziiert, bzw. werden sie als Symptome gesellschaftlicher Veränderungen identifiziert. Dies wird beispielsweise in folgendem Statement von Martin Louis Schmidt deutlich: Wir „lehnen eine Instrumentalisierung unserer Sprache durch politisch korrekte Vorgaben oder geschlechterneutrale Ideologisierungen in aller Deutlichkeit ab. Letzteres nicht nur, weil das sogenannte Gender Mainstreaming im Rahmen eines undemokratischen familienfeindlichen Gesellschaftsexperiments stattfindet. Die mit der teilweisen Leugnung der biologischen Geschlechter zugunsten sogenannter „sozialer Geschlechter“ einhergehenden begrifflichen und grammatikalischen Kunstgriffe sind in unseren Augen nicht zuletzt sprachästhetische Vergewaltigungen“.

Martin Louis Schmidt ist Landtagsabgeordneter der AfD im Landtag von Rheinland-Pfalz, sowie für die rechtspopulistische Zeitschrift Junge Freiheit aktiv. Außerdem ist er Arbeitsgruppenleiter der Gruppe ‚AfD für gutes Deutsch‘ beim Verein für deutsche Sprache. Der Homepage des Vereins ist auch obiges Statement entnommen. Er stellt darin geschlechtergerechte Sprache als „undemokratisches, familienfeindliches Gesellschaftsexperiment“ dar. Sprachliche Änderungen werden somit direkt auf andere gesellschaftliche Aspekte – hier das Familienbild – bezogen.

Zurück zu Friedrich Merz: Er hat den Begriff der ‚deutschen Leitkultur‘ bereits vor über 20 Jahren in die CDU eingebracht und damit die Idee, dass es eine Leitlinie gibt, anhand derer sich alle zu orientieren haben. Zur Leitkultur gehört, wie die Debatte zeigt, auch die deutsche Sprache. Dabei geht es nicht nur darum, dass Menschen deutsch lernen müssen, wenn sie Deutsche sein wollen. Es geht auch darum, dass Veränderungen der Sprache Veränderungen der Kultur – und damit letztlich der Volksidentität – bedeuten. Auf diese Weise können sprachliche Veränderungen – wie die Verwendung geschlechtergerechter Sprache – als Gefahr für das deutsche Volk interpretiert werden. In diesem Extrem wird dies nur in der extremen Rechten ausgesagt, aber das zugrundeliegende Volkskonzept wird von rechten (AfD und Neue Rechte) und konservativen Gruppen (CDU/CSU, Freie Wähler) geteilt.     

Es ist, denke ich, kein Zufall, dass das Thema der geschlechtergerechten Sprache aktuell in der CDU stark aufgegriffen wird. Die Verwendung geschlechtergerechter Sprache stellt einen Angriff auf Merz Leitkultur dar.


 

Literatur

Bergem, Wolfgang. 2019. Volkserzählungen, Narrative des Volkes, Narrative über das Volk. In: Michael Müller & Jørn Precht (Hrsg.). Narrative des Populismus. Erzählmuster und -strukturen populistischer Politik, 63-80. Berlin: Springer.

Der VDS und die Neue Rechte

„Warum wird eigentlich jeder, der sich gegen Gendern ausspeicht, sofort in die rehte Ecke gestellt?“, so oder zumindest so ähnlich findet sich diese Frage derer, die sich gegen Gendern aussprechen, immer wieder. Sicherlich gehört nicht jede Person, die sich gegen den Gebrauch geschlechtersensibler Sprache ausspricht, in die rechte Ecke. Aber sehr häufig kommt die Kritik am Gendern aus genau dieser Richtung, etwa von der AfD oder dem rechtskonservativen CDU-Politiker Christopher Ploß.

In der gesamten Debatte rund um das Thema Gendern mischt auch der Verein für deutsche Sprache (VDS) mit. Stefan Hartmann – Juniorprofessor für germanistische Sprachwissenschaft – attestiert dem VDS auf www.volksverpetzer.de eine rechtspopulistische Agenda. Damit ist schon vieles gesagt, ein bisschen lässt sich aber noch hinzufügen.

Auf der Homepage des VDS gibt es die Rubrik ‚Arbeitsgruppen‘, darin die Unterkategorie ‚Deutsch in der Politik‘. Für einzelne Parteien werden Positionen zu sprachpolitischen Themen wiedergegeben, die jedoch nicht die offizielle Position der Partei ist, sondern die der jeweiligen Gruppenleiter. Dieser Gruppenleiter sind – so wie ich das überblicke – Mitglieder der jeweiligen Parteien und zugleich Mitglied beim VDS.

Gruppenleiter für die AfD ist Martin Louis Schmidt, der für die AfD Mitglied im Landtag von Rheinland-Pfalz ist. Was schreibt Schmidt auf dieser Seite des VDS? Die Grundidee, die vertreten wird, ist, dass die deutsche Sprache durch das Grundgesetzt geschützt werden muss. Es wird gegen eine falsch verstandene Internationalisierung gewettert, womit der Gebrauch des Englischen an z.B. deutschen Universitäten abgelehnt wird. Außerdem wird sich gegen das „Gender Mainstreaming“ ausgesprochen, das „im Rahmen eines undemokratischen familienfeindlichen Gesellschaftsexperiments stattfindet. Die mit der teilweisen Leugnung der biologischen Geschlechter zugunsten sogenannter ’sozialer Geschlechter‘ einhergehenden begrifflichen und grammatikalischen Kunstgriffe sind in unseren Augen nicht zuletzt sprachästhetische Vergewaltigungen“.

Schmidts Textchen ist eine Paradebeispiel des Rechtspopulismus. Neben seiner Tätigkeit als Politiker ist Schmidt auch journalistisch tätig und war in den 1990er Jahren stellevertretender Chefredakteur der Jungen Freiheit, einer Zeitung der Neuen Rechten. Nicht nur das ein prominentes Mitglied der Neuen Rechten Mitglied beim VDS ist, der VDS duldet auch offensichtlich rechtspopulistische Positionen auf seiner eigenen Homepage.

Sieht es denn vielleicht bei anderen Parteien – sagen wir den Grünen – besser aus? Für die Grünen ist der Mitbegründer der Grünen Rolf Stolz der entsprechende Gruppenleiter beim VDS. Inhaltlich geht es bei Stolz vor allem darum, dass der Ressortleiter die Vermischung von Deutsch und Englisch ablehnt. „Gehirnwäsche per ‚Greeenwashing‘ (sic!) und ‚Veggie Day‘ – nein danke!“, ist auf der Homepage zu lesen.

Stolz, der sich selbst wohl als links ansieht, gehört doch irgendwie auch der Neuen Rechten an. Nicht nur ist er als Autor für die Neue Freiheit aktiv, sondern auch für das Magazin Compakt, das der Verfassungsschutz als ‚gesichert rechtsextrem‘ einstuft. Somit gibt es ein zweites Mitglied der Neuen Rechten, die im VDS aktiv ist und das nicht nur als Gruppenleiter sondern auch als Referent (für was eigentlich?).

Klar, nicht jede Person, die sich gegen Gendern ausspricht, ist rechts. Aber wer in seinen Reihen Vertreter – hier verwende ich bewusst die maskuline Form – der Neuen Rechten operieren lässt, der muss sich zumindest denn Vorwurf gefallen lassen, dass eine Abgrenzung nach rechts zumindest nicht erfolgt. Aber nicht nur das, der VDS bietet der Neuen Rechten ein Forum, dem viele Menschen, die sich wahrscheinlich sonst von der Neuen Rechten abgrenzen würden – Hape Kerkeling, Dieter Hallervorden – , einen bürgerlichen Anschein geben.

Wenn sich der VDS nicht von der Neuen Rechten abgrenzt, dann sollten sich die Mitglieder des VDS von diesem Verein abgrenzen, wenn sie nicht mit in die rechte Ecke gestellt werden wollen.

Nachtrag 30.05.2023: Rolf Stolz ist seit längerem bei den Grünen umstritten, wie schön in diesem Artikel der TAZ nachzulesen ist.

Der Richter ist schon wieder schwanger

Wie generisch ist das Maskulinum?

Der Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen ist nicht weiter ungewöhnlich. Dennoch gibt es Streit darüber, was er bedeutet. Konkret geht es um das Nomen Richter. Bezieht sich Richter nur auf Personen männlichen Geschlechts oder können mit dem Nomen Männer und Frauen gemeint sein? Letztere Idee steht hinter der Hypothese des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘. Diese besagt konkret: maskuline Nomen zur Personenbezeichnung beziehen sich nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen. Diese Hypothese muss etwas eingeschränkt werden, es geht dabei natürlich nur um Nomen, die nicht aufgrund ihrer Bedeutung nur Männer meinen, zum Beispiel die Nomen Mann, Vater oder Opa. Nomen, die keine Personen bezeichnen (der Ball, der Sturm, der Winter) sind von der Hypothese ebenfalls ausgeschlossen, da Geschlecht (oder auch Sexus) eine Eigenschaft belebter Individuen ist.

Ist es möglich mit Richter Männer und Frauen bezeichnen? Natürlich scheint es möglich zu sein, aber fühlen sich Frauen davon auch angesprochen. Aber vielleicht ist das ’natürlich scheint es möglich zu sein‘ auch etwas übereilt. Wie sieht es denn mit dem Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen aus? Dass er seltsam klingt liegt an der Kombination aus er und Baby stillen. Ein Baby stillen bedeutet, dass Baby über die Brust mit Muttermilch füttern. Männer können das nicht.

Wäre Richter eine wirklich generische Form – im Sinne dessen, dass das Nomen Bezug auf Personen jeglichen Geschlechts erlaubt – , sollte der obige Satz nicht seltsam erscheinen. Können wir ihn besser machen, vielleicht wenn wir er durch sie ersetzen? Der Richter kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen. Irgendwie klingt der Satz aber auch nicht besser, was nahelegt, dass es nicht am Pronomen, sondern wirklich an dem Nomen Richter liegt, das nicht gut mit Tätigkeiten assoziiert werden kann, die von Männern nicht ausführbar sind.

Wenn ich schreibe ‚klingt seltsam‘ oder ‚klingt auch nicht besser‘, gebe ich meine Intuitionen wieder. Es wäre sinnvoll, diese Intuitionen in sauber designten experimentellen Studien zu überprüfen. Beispielsweise wäre es möglich zu testen, ob Sprecher*innen länger brauchen um den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen zu lesen als den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen. Oder braucht ein Leser/ eine Leserin länger, wenn er/sie Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen im Vergleich zu Die Richterin kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen liest? Alternativ könnte der menstruiende Richter mit der urinierende Richter verglichen werden. Meine Intuition ist, dass der menstruierende Richter arg seltsam klingt. Seltsam zu klingen bedeutet nicht ungrammatisch zu sein. Aber wenn etwas seltsam klingt, dann ist dies doch ein Indiz dafür, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht als ‚normal‘ bewertet wird. Wichtig ist, dass wir auf diese Weise eine Hypothese aufstellen können, die sich experimentell überprüfen lässt. Gibt es das generische Maskulinum, sollte sich kein Unterschied zwischen den Sätzen ergeben. Wenn es doch kein generisches Maskulinum ist, wäre ein Unterschied zu erwarten (Die Sätze mit der Richter … er … sein Baby stillen sollten mehr Zeit beim Lesen (= Verarbeiten) brauchen als die Vergleichssätze).

Bisher ging es nur um die Singularform Richter. Was ist aber mit dem Plural? Die Richter kamen zu spät, sie mussten erst noch ihre Babies stillen? Oder Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger. Sind die Pluralsätze besser als die Singularsätze? Bezieht die Pluralform Frauen mit ein?

Vorweg: im Plural gibt es im Deutschen keine Genusunterscheidung mehr. Genus erkennen wir im Deutschen nur an der Form des Artikels bzw. Adjektivs, der/das ein Nomen modifiziert (Sprachwissenschaftler*innen sprechen von Kongruenz). Im Plural verlangen alle Nomen, egal welchem Genus sie im Singular angehören, dieselbe Form des Adjektivs/Artikels. Also der Richter, die Richterin, das Kind – aber die Richter, die Richterinnen, die Kinder.

Wäre die Pluralform generisch – könnte also für alle Geschlechter verwendet werden – , müsste von einem ‚generischen Plural‘ und nicht von einem ‚generischen Maskulinum‘ gesprochen werden. Ich bin mir bezüglich des Plurals nicht sicher. Die Pluralform scheint besser zu sein, aber ganz eindeutig ist mein Urteil nicht. Aber das ist auch egal, denn mittels experimenteller Methoden kann man dem auf den Grund gehen. Wie für die Singularbeispiele kann man also auch für die Pluralbeispiele vergleichen, ob Leser*innen für das Lesen eines Satzes wie Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger länger/kürzer/gleich lang brauchen wir für den Satz Am Landgericht sind drei Richter*innen beurlaubt, alle drei sind schwanger.

Solche Experimente werden natürlich so durchgeführt, dass die Versuchspersonen nicht wissen, worum es geht. Zudem sollte die Gruppe der Versuchspersonen zu zusammengesetzt sein, dass sie möglichst heterogen ist – zum Beispiel nicht nur Genderideologen aus dem Verein für deutsche Sprache. Natürlich wäre es auch interessant zu wissen, ob die Einstellung der Versuchsperson zum Thema Gendern eine Auswirkung auf die Versuchsergebnisse hat. Dies kann man auch abtesten und auswerten.

Das generische Maskulinum ist keine Glaubenssache, sondern kann experimentell untersucht werden. Intuitionen legen die Hypothese nahe, dass die Singularform – die maskuline Form – eine (starke) Assoziation mit männlichen Personen aufweist.   

Die Diskussion des generischen Maskulinums ist erst einmal unabhängig vom Thema Gendern. Bei der Frage nach dem generischen Maskulinum geht es darum, welche Form von Personenreferenz – also Bezugnahme auf Menschen – durch ein Nomen mit maskulinem Genus erfolgt. Beim Gendern geht es um die Sichtbarmachung von Personen unterschiedlichen Geschlechts (was auch noch einmal unabhängig davon ist, ob eine binäre oder nicht-binäre Geschlechtsunterscheidung angenommen wird). Aus der Beobachtung, dass maskuline Nomen, die auf Menschen referieren, nicht unbedingt Frauen mitmeinen, kann man leicht zu der Idee übergehen, dass Gendern sinnvoll ist. Denn durch Gendern – zumindest eine Beidnennung wie Richterin und Richter – wird deutlich, dass Frauen mitgemeint sind. Dieser Schluss muss aber nicht zwingend gezogen werden. Wichtig in der Genderdiskussion ist aber, dass die einzelnen Themenkomplexe, die in der Debatte vermengt werden, auseinandergehalten werden.

Die Frage, ob es ein generisches Maskulinum gibt, ist eine linguistische. Ob Mensch gendern sollte, ist dagegen eine nicht genuin linguistische Fragestellung, sondern hat mit Sprechereinstellungen zu tun. Dabei geht es nicht nur um Einstellung der Sprecher zur Sprache, sondern auch zu außersprachlichen Faktoren. Beide Fragestellungen müssen daher auch mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden.

1. Nachtrag: Ein/e Twitteruser/in hat bemängelt, dass der Text keine Quellenangaben enthalten würde. Bei meiner Sprachintuition bin ich die Quelle. Die Intuition erscheint mir aber einigermaßen robust – zumindest was die Singularformen angeht – , da ich in mehrere Seminaren Studierende zu diesen Formen befragen konnte. Zum Genus gibt es zahlreiche gute wissenschaftliche Arbeiten, die das Thema umfassend beleuchten. G. Corbett’s Buch Gender (erschienen bei Cambridge University Press) führt in das Thema ‚Genus‘ sehr umfassend ein und zeigt auch gut auf, wie man Genusklassen über Kongruenzmuster feststellen kann. Auch der Aspekt der Genusneutralisation im Plural findet sich dort. Überhaupt ist dies Thema in zahleichen Arbeiten zum deutschen Genus. Wer eine explizite Referenz möchte: aus dem Jahr 2008 D. Nübling Was tun mit Flexionsklassen? erschienen in Zeitschrift für Dialektologie & Linguistik Band 75, Heft 3. Zur Frage, wie Genus und Sexus zusammenhängen, gibt es auch sehr gute Arbeiten, die die Forschungsliteratur zusammenfassen. Von D. Nübling & H. Kotthoff gibt es z.B. den Band Genderlinguistik, der bei Narr erschienen ist. Da fehlt dann natürlich auch das Thema ‚generisches Maskulinum‘ nicht.

Zusätzlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu der Frage, ob beim ‚generischen Maskulinum‘ Frauen mitgemeint sind. Ein Klassiker stellt L. Puschs Buch Das Deutsche als Männersprache dar. Aber auch experimentell wurde einiges gemacht. Hier nur ein paar Titel:

Heise, E.. 2000. Sind Frauen mitgemeint? Eine empirische Untersuchung zum Verständnis des generischen Maskulinums und seiner Alternativen. Sprache & Kognition 19 (1-2): 3-13.

Irmen, L., & Köncke, A. 1996. Zur Psychologie des „generischen“Maskulinums . Sprache & Kognition, 15( 3): 152–166.

Braun, F., Gottburgsen, A., Sczesny, S. & Stahlberg, D. 1998. Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26 (3): 265-283.

Braun, F., Sczesny, S., Stahlberg, D. 2002. Das generische Maskulinum und die Alternativen: Empirische Studien zur Wirkung generischer Personenbezeichnungen im Deutschen. Germanistische Linguistik 167-168: 77-87.

2. Nachtrag (10.02.2023): Ich habe oben die Frage aufgeworfen, ob eine Pluralform, die von einem maskulinen Nomen gebildet ist, eine wenige starke Assoziation mit männlichen Referenten aufweist als das ‚generische Maskulinum‘. Eine Studie von Gygax et al. (2008) legt nahe, dass das nicht so ist. Probanden bekamen Sätze der Art Die Sozialarbeiter liegen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Männer/Frauen keine Jacke. Die Aufgabe war zu entscheiden, ob der zweite Satz eine mögliche Fortsetzung des ersten Satzes darstellt. Dabei wurde die Reaktionszeit der Versuchsteilnehmer gemessen. Die Reaktionszeiten waren schneller, wenn in dem zweiten Satz Männer genannt wurde. Die Autoren schließen daraus, dass das Genus der (zugrundeliegenden) Singularform eine Sexusassoziation des Plurals bewirkt.

Gygax, P., Gabriel, U., Sarrasin, O., Oakhill, J. & Garnham, A. 2008. Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men. Language and Cognitive Processes 23 (3): 464-485.

Kann man kommunizieren, obwohl jemand gendert?

Über misslungene Argumente zu gelungener Kommunikation

Der VDS – in ausgeschriebener Form ‚Verein für deutsche Sprache‘ – setzt sich sprachpflegerisch für die deutsche Sprache ein. Ein zentrales Anliegen des Vereins ist der Kampf gegen das Gendern. Unter anderem bietet der Verein eine Argumentationshilfe ‚Zwanzig Argumente gegen das Gendern‚ an, auf die ich an anderer Stelle bereits kritisch eingegangen bin. Diesmal möchte ich mir ein weiteres ‚Argument‘ vornehmen und zwar Nummer 7 der Liste:

Gendern ist dysfunktional. Es ist eine Form der misslungenen Kommunikation. Sätze werden mit irrelevanten Informationen überfrachtet. Gendern verliert durch die Fixierung auf den Aspekt Geschlecht die Kernaussage aus dem Blick.

Es lohnt sich genauer auf das ‚Argument‘ einzugehen:

  • Gendern ist eine dysfunktionale Verwendung von Sprache, bei der die Kommunikation misslungen ist.
  • Sätze werden mit irrelevanten Informationen überfrachtet.
  • Durch Gendern verlieren wir die Kernaussage aus dem Blick und es findet eine Fixierung auf das Geschlecht statt.

Misslungene Kommunikation

Wann ist Kommunikation gelungen und wann misslungen? Kommunikation hat verschiedene Funktionen: sie kann zur Übermittlung von Informationen dienen; sie kann zur Erfragung von Informationen dienen; sie kann dazu dienen, dass Mensch einen Auftrag erteilt; sie kann rein sozialen Zwecken – etwa der Festigung sozialer Beziehungen – dienen. Und vieles, vieles mehr. Gelungen ist die Kommunikation dann, wenn das mit der Kommunikation intendierte Ziel erreicht wurde.

Wenn ich mitteilen möchte, dass in einem Verein Menschen Mitglied sind, die keine Ahnung vom Thema gendern haben, dann kann ich das folgendermaßen machen: Die Männer im VDS haben keine Ahnung vom Thema gendern. Mag zutreffen, aber die Äußerung wirft de Frage auf, ob die Frauen im VDS denn Ahnung vom Thema gendern haben. Ich könnte also stattdessen sagen: Die Männer und Frauen im VDS haben keine Ahnung vom Thema gendern. Die Beidnennung – Männer und Frauen – ist eine Form geschlechtergerechter Sprache und im Falle des Beispielsatzes wird die Verwendung der Beidnennung auch – zumindest sehe ich es so – den Tatsachen gerecht.  

Anderes Beispiel: Ich bin der Meinung, dass die Krankenpfleger*innen einen unterbezahlten Job machen. Wer dies liest und weiß, dass ich der Meinung bin, dass Personen, die in der Krankenpflege arbeiten, zu wenig Geld verdienen, hat die kommunikative Absicht dieser Äußerung verstanden. Glaubt jemand ernsthaft, dass Kommunikation misslingt – meine sprachliche Äußerung also gar nicht erst interpretierbar ist – , wenn ich ein Gendersternchen schreibe? Das Gendersternchen ist nach den aktuell geltenden Regeln der amtlichen Rechtschreibung ein Rechtschreibfehler, da dieser Form der wortinternen Interpunktion nicht zugelassen ist [dazu hier mein Kommentar]. Aber sind Rechtschreibfehler – selbst dann, wenn sie absichtlich sind – ein Grund, warum Kommunikation misslingt? Wenn ja, dann sollte folgender Satz niemandem vom VDS stören dürfen, denn er stellt eine misslungene Form der Kommunikation dar: Gändärkritika sind dof.

Wenn durch das Gendern Kommunikation misslingt, dann nur, weil ein Kommunikationsteilnehmer oder eine Kommunikationsteilnehmerin die Kommunikation bewusst scheitern lässt. Kleiner Hinweis: das ist nicht die Person, die gendert.     

Irrelevante Informationen

Wir sind den ganzen Tag immer wieder mit Informationen konfrontiert, die wir als irrelevant einschätzen. Aber, das ist wesentlich, Relevanz ist eine subjektive Einschätzung. Was für die eine relevant ist, ist für den anderen irrelevant. Manche Menschen finden es relevant zu wissen, ob nur Männer oder alle Geschlechter gemeint sind. Haben nur die Männer im VDS keine Ahnung vom Gendern oder auch die Frauen? Betrifft meine Kritik nur einen Teil der VDS-Mitglieder oder alle?

In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass geschlechtergerechte Sprache keine irrelevanten Informationen beisteuert sondern für das Verständnis wichtige Informationen. Frauen fühlen sich nicht immer angesprochen, wenn das ‚generische Maskulinum‘ verwendet wird. Sie müssen dazu nicht bewusst sagen: „Damit bin ich jetzt aber nicht gemeint“. Es reicht, wenn sie zum Beispiel Stellenanzeigen als weniger relevant erachten, nur weil die verwendete Form ein ‚generisches Maskulinum‘ ist. Wenn durch geschlechtergerechte Sprachen sich Frauen weniger ausgeschlossen fühlen – vielleicht nicht alle, aber doch hinreichend viele – , dann sind die damit beigesteuerten Informationen definitiv nicht irrelevant. Oder soll es heißen, dass Frauen weniger relevant sind?

Kernaussage

Ein Satz wie Die Männer im VDS haben keine Ahnung vom Gendern macht eine Aussage über das Subjekt die Männer im VDS. Die Aussage, die über das Subjekt gemacht wird, ist ‚keine Ahnung vom Gendern zu haben‘. Die Kernaussage ändern sich nicht, egal ob eine Beidnennung oder eine Form mit Genderstern oder was auch immer verwendet wird. Wieso sollte irgendwer glauben, dass sich die Bedeutung einer Aussage sofort zu ‚GESCHLECHT‘ ändert, nur weil Frauen explizit mitgenannt werden? Die Männer und Frauen im VDS haben keine Ahnung vom Gendern und Die Angehörig*innen des VDSs haben keine Ahnung vom Gendern bedeuten etwas ganz Ähnliches wie das erste Beispiel, nur ein bisschen mehr. Nämlich das nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen im VDS keine Ahnung vom Gendern haben. Kommt das Thema ‚Geschlecht‘ ins Spiel? Ja, denn die Personenreferenz wird eindeutig: nicht nur männliche, auch weibliche Personen sind gemeint. Ändert sich die Kernaussage? Nein! Findet eine Fixierung auf das Geschlecht statt? Nein!

‚Geschlecht‘ ist aber bei Personenreferenz nun einmal ein wichtiger Aspekt, denn es gibt – dies wird auch im VDS niemand leugnen wollen – verschiedene Geschlechter. Dass ‚Geschlecht‘ also durch Gendern thematisch in eine Äußerung beigesteuert wird, ist natürlich. Damit wird ein wichtiger Aspekt der Personenreferenz – Personen haben verschiedene Geschlechter – einfach nur explizit.

Gut gemeinter Hinweis: Fragen die Expert*innen

Gerade zu den Themen ‚Funktionalität‘ und ‚gelungene Kommunikation‘ wäre noch viel zu sagen, klar sollte aber sein: Gendern hat nichts mit gelungener Kommunikation oder gar Dysfunktionalität zu tun, sondern mit Rücksicht über Personen unterschiedlichen Geschlechts. Wenn man Höflichkeit als Teil einer gelungenen Kommunikation ansieht – Unhöflichkeit ist durchaus ein Grund zum Abbruch von Kommunikation – , dann stellt Gendern einen positiven Beitrag zu gelungener Kommunikation dar. Wer gendert, nimmt die Diskriminierungsempfindungen von u.a. Frauen ernst.

Das ‚Dysfunktionalitätsargument‘ des VDS schlägt also fehl. Abschließend möchte ich aber gerne noch einen Hinweis anbringen: Lieber auf die Expertise der Experten hören. Glücklicherweise gibt es zum Thema Sprache Expert*innen: Sprachwissenschaftler*innen. In der Mehrzahl sieht diese den VDS sehr kritisch, Gendern dagegen aber nicht. Das hat Gründe: gute Gründe, die wissenschaftlich motiviert sind. Bevor Mensch also den ‚Argumenten‘ des VDSs traut, wäre eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Fachliteratur zu empfehlen.

Nachtrag (30.12.2022): Als Beispiel habe ich oben die Nomen Mann und Frau immer wieder verwendet. Klar, da ist eine Beidnennung nötig, da diese Nomen in ihrer Bedeutung den Bezug auf ein bestimmtes Geschlecht drin haben. Anders sieht es mit Angehörig*innen oder Nomen wie Ärzt*innen, Lehrer*innen, Expert*innen und Sprachwissenschaftler*innen aus. Das oben geschrieben trifft, wie ja auch teilweise gezeigt, auch für diese Nomen zu. Spricht Mensch von Sprachwissenschaftler*innen oder Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen wird deutlich gemacht, dass nicht nur die männlichen Vertreter, sondern eben auch die weibliche Vertreterinnen (und Personen anderen Geschlechts bei der Form mit *) gemeint sind.

Gendern, Sexismus und die Brüder Grimm

Der Verein für deutsche Sprache findet Gendern sexistisch

Kein sprachwissenschaftliches Thema erzielt so viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie die geschlechtergerechte Sprache, die auch gerne unter der Bezeichnung ‚Gendern‘ diskutiert wird. Die öffentliche Diskussion wird leider sehr von Laien dominiert; die Fachwissenschaftler, die sich mit diesem Thema beruflich aus einer ideologiefreien, wissenschaftlichen Perspektive auseinandersetzen, gehen dabei häufig unter.

Einer der wortstarken Meinungsführer, der sich ideologisch gegen das Gendern ausspricht, ist der Verein für deutsche Sprache. Unter anderem hat der Verein einige ‚Argumentationshilfen‘ im Angebot, beispielsweise seine ‚20 Argumente gegen das Gendern‚.

Ich will mich nicht mit allen diesen ‚Argumenten‘ zugleich auseinandersetzen, aber hin und wieder gerne einem von ihnen. Interessant finde ich das vierte ‚Argument‘, das folgendermaßen lautet:

Gendern ist sexistisch, weil es über die Sexualisierung der Sprache Geschlechterdifferenzen zementiert. Weil es Menschen auf ihr Geschlecht reduziert. Weil es die reaktionäre Erzählung von der Frau als ewigem Opfer fortschreibt – und die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter.

In diesem ‚Argument‘ stecken folgende Aussagen:

  • (i) Gendern ist sexistisch, denn Gendern stellt eine Sexualisierung der Sprache dar.
  • (ii) Durch die Sexualisierung der Sprache werden Geschlechterdifferenzen zementiert.
    • (iii) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil Menschen auf ihr Geschlecht reduziert werden.
      • (iv) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die reaktionäre Erzählung von Frauen als ewigem Opfer fortgeführt wird.
        • (v) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter fortgeführt wird.

Sexualisiert das Gendern die Sprache?

Was wird unter Gendern verstanden? Im einfachsten Fall ist damit die Sichtbarmachung von Frauen, etwa in Form einer Beidnennung Idiot und Idiotin gemeint. Zugleich kann aber auch gerade die Nichtfokussierung auf das Geschlecht, durch die Verwendung eines nominalisierten Partizips Lehrende statt Lehrer und Lehrerinnen, erfolgen.

Hinter der Genderthematik steckt selbstverständlich noch sehr viel mehr, insbesondere die Diskussion um das soziale Geschlecht und nicht-Binärität spielen eine wichtige Rolle. Beides klammere ich an dieser Stelle aus, da in dem ‚Argument‘ auch nur verkürzt über Männer und Frauen – also die klassischen binären Geschlechter – gesprochen wird.

Führt also die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen zu einer Sexualisierung der Sprache? Die Antwort ist ganz klar Nein, denn das Deutsche wird dadurch nicht stärker sexualisiert als es vorher schon war. Gerne wird behauptet, dass es keinen Zusammenhang zwischen Genus (einer grammatikalischen Kategorie zur Klassifikation von Nomen) und Sexus (einer biologischen/sozialen Kategorie) gibt. Partiell ist das auch so, denn das Tisch ein maskulines Nomen ist, hat nichts mit dem Geschlecht oder Sexus des Nomens zu tun. Aber zugleich gibt es im Bereich der belebten Natur – relevant sind vor allem Menschen und einige höhere Säugetiere – einen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus. Nomen, die auf männliche Menschen, bzw. Tiere referieren, sind in aller Tendenz Maskulina. Umgekehrt gilt: Nomen, die auf weibliche Menschen und Tiere referieren, sind in der Regel Feminina. Wir können zwar das Nomen Katze (ein Femininum) für die Bezeichnung der Art verwenden (und verwenden das Nomen auch dann, wenn wir das Geschlecht eines Individuums nicht kennen), aber wenn das Geschlecht bekannt ist, wird die feminine Form Katze für die weiblichen Tiere und die maskuline Form Kater für männliche Tiere verwendet.

Alle Nomen, die nicht in den genannten Bereich fallen, sind schlichtweg irrelevant. Das Gabel ein feminines Nomen ist, obwohl Gabeln eindeutig keine Frauen sind, ist egal. Warum? Weil sie kein Geschlecht haben. Die Genuszuweisung erschöpft sich nicht in einer Korrelation zwischen (natürlichem) Geschlecht und Genus, aber dies ist ein Faktor, der das Genus von Nomen mit belebten Referenten determiniert.

Sexualisierte Kindergeschichten

Viele Leute würden sicherlich zustimmen, dass Kindergeschichten ein Platz sind, wo eine Sexualisierung nach Möglichkeit unterbleiben sollte. Viele Menschen lesen ihren Kindern Grimms Märchen vor. Die Grimms haben ihre Märchen systematisch sexualisiert, wie folgendes Beispiel aus ‚Die sechs Schwäne‘ zeigt:

Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, daß er sprach ‚Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt‘, und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.

(Link zum Text)

Zuerst ist das Mädchen, um das es in dem Märchen geht, ein ‚es‘. Die Textpassage fängt damit an, dass mit ihm und es auf das Mädchen Bezug genommen wird. Erst am Ende des Absatzes wird das Mädchen zu einer ’sie‘. Der Wechsel nach ‚es‘ zu ’sie‘ erfolgt in dem Moment, in dem sie begehrt wird und sich jemand mit ihr vermählen will. Orrin Robinson spricht davon, dass bei den Grimms Mädchen zu einer ’sie‘ werden, wenn sie als heiratsfähig und damit als Frau angesehen werden. Wenn das keine Sexualisierung der pronominalen Referenz darstellt, was dann?

Die Grimms haben nicht gegendert, sexualisiert war ihre deutsche Sprache dennoch. Wer sich also gegen eine Sexualisierung der Sprache ausspricht, sollte erst einmal einen Blick in die Sprachgeschichte und den Kanon der Kinderliteratur werfen.

Zementiert das Gendern Geschlechterdifferenzen?

Was sind denn eigentlich Geschlechterdifferenzen? Eines ist klar, Geschlechterdifferenzen sind erst einmal kein sprachwissenschaftliches Phänomen. Dafür aber ein soziologisches und bezieht sich, so würde ich es interpretieren, auf systematische Ungleichheiten bedingt durch das Geschlecht. Als erstes fallen mir da geschlechtsbedingte Unterschiede beim Einkommen ein.

Wer der Meinung ist, dass solche Unterschiede durch das Gendern zementiert werden, soll mir bitte erklären, wie. Warum sollte der diskriminierende Status quo durch die Verwendung geschlechtergerechter Sprache zementiert werden?

Werden Menschen durch Gendern auf ihr Geschlecht reduziert?

Der Gegenvorwurf ist, dass Frauen sprachlich nicht sichtbar sind und häufig nicht mitgemeint sind. Diese Frage berührt ein anderes der 20 ‚Argumente‘ des Vereins für deutsche Sprache, daher möchte ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen. Aber dennoch kurz: eine Ärztin ist nicht einfach ’nur‘ eine Frau, sondern Ärztin und weiblich. Zwei Eigenschaften des Referenten werden ausgesagt, die Profession und das Geschlecht. Eine Reduktion auf das Geschlecht erfolgt aber nicht.

Die reaktionäre Erzählung der Frau als ewigem Opfer und die anachronistische Erzählung des Mannes als ewiger Täter

Reaktionär bedeutet ‚fortschrittsfeindlich‘, wenn also ‚die Erzählung der Frau als ewigem Opfer‘ als „reaktionär“ bezeichnet wird, dann wird diese Erzählung abgewertet. Sie ist dieser Sichtweise nach überholt und gehört vergangenen Zeiten an. Ganz ähnlich die Bedeutung von anachronistisch. Was also gesagt wird ist: die Erzählungen von Frauen als Opfer und Männern als Täter sind überholt und gehören in frühere, überwundene Zeiten. Also gilt beides nicht, in unserer Zeit sind Frauen keine ewigen Opfer und Männer keine ewigen Täter.

Das Bundeskriminalamt führt eine Statistik zu Partnerschaftsgewalt, in der für das Jahr 2021 rund 143000 Delikte geführt werden. Rund 80% der Opfer waren Frauen, fast 80% der Täter Männer! So anachronistisch ist ein Bericht über das Jahr 2021 nicht, oder?

Hat Gewalt gegen Frauen denn nun irgendwas mit Gendern zu tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Frauen wurden sicherlich nicht Opfer von Partnerschafsgewalt, weil sie oder ihre Partner gegendert oder nicht gegendert haben. Gendern wird Partnerschaftsgewalt auch nicht beseitigen. Sprache stellt aber ein Spiegel der Gesellschaft dar und sowenig wie Frauen sprachlich gleichberechtigt sind, sind sie es gesellschaftlich. Nicht die Erzählung von der Frau als Opfer und dem Mann als Täter ist anachronistisch, sondern das Leugnen der sprachlichen und gesellschaftlichen Geschlechterdiskriminierung.      

Der Verein für deutsche Sprache stellt mit seinem Sexismusvorwurf die sprachliche Realität auf den Kopf. Nicht das Gendern ist sexistisch, sondern die Argumentation des Vereins für deutsche Sprache.

Hier noch die Literaturangabe zu dem sehr spannenden Buch von Robinson: Orrin Robinson. 2010. Grimm Language. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins. Ich möchte aber auch Damaris Nüblings Text Genus und Geschlecht empfehlen, der das Thema gut verständlich behandelt und dem ich unter anderem den Hinweis auf Robinsons Buch und die Brüder Grimm verdanke.

Nachtrag: Die 20 Argumente gegen das Gendern, auf die sich der VDS bezieht, stammen aus dem Buch ‚Von Menschen und Mensch*innen‘ geschrieben von F. Payr.

Genderideologie der CDU

Geschlechtergerechte Sprache, gesetzliche Festellungen und Laienlinguisten

Christoph Ploß – Mitglied des deutschen Bundestages für die CDU – fordert, dass es an deutschen Schulen und Universitäten keinen Genderzwang geben darf. In einem Redebeitrag im Bundestag spricht er davon, dass Schüler*innen und Studierende – die gegenderte Form stammt nicht von ihm – bei Prüfungen Angst haben müssten, wenn sie nicht in ‚Gendersprache‘ ihre Prüfungen schreiben [hier ein Video des Beitrags bei Twitter]. Als Konsequenz fordert er, dass es eine gesetzliche Klarstellung darüber dass an deutschen Schulen die deutsche Grammatik gilt und nicht eine ‚ideologische Gendersprache‘ geben muss.

Von welchen Fällen redet er? In welchen Fällen müssen Schüler*innen und Studierende Angst haben, wenn sie nicht gendern? Ich will nicht in Abrede stellen, dass es vielleicht den ein oder anderen Dozierenden gibt, der oder die gegenderte Personenbezeichnungen gerne verwendet sehen möchte. Vielleicht mag es auch Prüfende geben, die das Nichtverwenden geschlechtergerechter Sprache bei der Korrektur berücksichtigen. Aber wenn, dann sind dies Einzelfälle. Von hypothetischen Einzelfällen ausgehend – hypothetisch, da mir keine belegten Fälle bekannt sind – eine gesetzliche Regelung fordern, ist dann doch mehr als übertrieben.

Wer schreibt die Rechtschreibung vor?

Aber was wäre gesetzlich eigentlich möglich? Die amtliche deutsche Rechtschreibung wird durch den Rechtschreibrat (korrekt: Rat für deutsche Rechtschreibung) festgelegt. Wie auf der Seite des Rats nachzulesen ist, ist dieser ein zwischenstaatliches Gremium, das unter anderem mit der Weiterentwicklung der Orthographie betraut ist. Dem Rat gehören 41 Mitglieder an, die aus der Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen stammen.

Das aktuelle amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung ist online hier abzurufen. Im Vorwort steht zu lesen, welchen Geltungsbereich das Regelwerk überhaupt hat. Dieser ist sehr eingeschränkt, nämlich diejenigen Institutionen, für die der Staat hinsichtlich der Rechtschreibung Regelungskompetenz besitzt. Das sind Schulen, Verwaltung und Rechtspflege. Firmen, Druckereien, Verlage, Privatpersonen sind davon nicht erfasst und kÖnnen schraiben wia sia wolen. Was ist mit Universitäten? Hier sieht der wissenschaftliche Dienst des Bundestags einen Graubereich, bedingt durch die Wissenschaftsfreiheit. Mir scheint es so zu sein, dass nach Einschätzung des Dienstes die Regelungskompetenz des Bundes hier nicht unbedingt gilt. Der Rechtschreibrat scheint anderer Meinung zu sein und schreibt:

„Für den Hochschulbereich erscheint fraglich, ob die Forderung einer „gegenderten Schreibung“ in systematischer Abweichung vom Amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung für schriftliche Leistungen der Studierenden und die Berücksichtigung „gegenderter Schreibung“ bei deren Bewertung durch Lehrende von der Wissenschafts-freiheit der Lehrenden und der Hochschulen gedeckt ist.“    

(Geschlechtergerechte Schreibung; Seite 1)

Im Rahmen der Regelungskompetenz gilt also die amtliche deutsche Rechtschreibung, aber eben nur in diesem Rahmen. Was sagt denn die amtliche deutsche Rechtsschreibung zu geschlechtergerechter Sprache? Nichts konkretes. Es gibt aber eine klare Empfehlung des Rechtschreibrats, die besagt, dass „allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll und sie sensibel angesprochen werden sollen“ (Quelle). Die unterschiedlichen Mittel zum Ausdruck geschlechtergerechter Sprache, z.B. Asterisk Schüler*innen, Unterstrich Schüler_innen, Doppelpunkt Schüler:innen, usw. sind nicht in das Regelwerk aufgenommen worden. Warum nicht? Auch hier hat der Rechtschreibrat eine nachvollziehbare Position und schreibt: „Dies [gemeint ist, die Verwendung geschlechtergerechter Sprache] ist allerdings eine gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe, die nicht allein mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschreibung gelöst werden kann“.

Bezüglich der konkreten Verwendung geschlechtergerechter Sprache stellt der Rechtschreibrat nachvollziehbare Forderungen, die durch Formen wie Schüler*innen nur bedingt erfüllt werden. Dazu gehört u.a. (Vor-)Lesbarkeit, Rechtssicherheit, Übersetzbarkeit. Damit ist das Thema aber nicht beendet, denn der Rechtschreibrat ist sich seiner Verantwortung bewusst und schreibt:

„Dazu gilt es, die Entwicklung des Schreibgebrauchs aufgrund der Beobachtung der geschriebenen Sprache durch Empfehlungen oder möglicherweise Regeln so zu beeinflussen, dass er den Vorstellun-gen und Gewohnheiten einer Mehrheit der Schreiberinnen und Schreiber entspricht, aber gleichzeitig die fundierte sprachwissenschaftliche Verankerung besitzt, die vom Rat seinem öffentlichen Auftrag entsprechend erwartet wird.“

(Geschlechtergerechte Schreibung seit 2018; Seite 5)

Aktuell wären damit geschriebene Formen wie Schüler*innen ein Verstoß gegen die orthografische Norm. Daher muss Herr Ploß gar nicht fordern, dass an den Schulen die Verwendung des Gendersterns verboten werden sollte. Die amtliche deutsche Rechtschreibung, die für Schulen gilt, setzt das Gendersternchen sowieso außerhalb der Norm.

Normen heute müssen nicht die Normen morgen sein

Herr Ploß kann also beruhigt sein, kein Kind muss gendergerechte Sprache in der Schule verwenden. Aber – der Rechtschreibrat sagt es deutlich – , der Sprachgebrauch soll beobachtet und die Rechtschreibregeln eventuell angepasst werden. Legt der Sprachgebrauch eine Akzeptanz der Formen nahe, wird sich der Rechtschreibrat in der Notwendigkeit sehen, dies auch in den Rechtschreibregeln zu kodifizieren. Eigentlich totla demorkatisch, wenn dem Volk so auf’s Maul (oder auf die Schreibung) geschaut wird.

Sprache ist sowieso eine ziemliche demokratische Sache, denn sie gehört niemandem. Sprecher*innen verwenden Sprache so, wie sie es mögen. Das können sie machen, denn wer will es ihnen verbieten? Sprache passt sich im Gebrauch den Bedürfnissen der Sprecher an. Wer das verkennt, verkennt ein wesentliches Element von Sprache: sie ist nicht starr, sondern dynamisch. Wie jeder Studierende im ersten Semester lernt: Sprache verändert sich. Nur tote Sprachen verändern sich nicht mehr.

Sprache ist auf eine gewisse Weise aber auch entblößend. Durch die eigene Sprachverwendung sagt Sprecher*in einiges über das eigene Weltbild aus. Sprecher, die auf geschlechtergerechte Sprache achten, zeigen, dass ihnen dieses Thema wichtig ist. Dass es ihnen auch wichtig ist, keine Person auf Grund des Geschlechts auszugrenzen oder zu diskriminieren. Sprecher*innen, die keine geschlechtergerechte Sprache verwenden, zeigen, dass ihnen dies nicht wichtig ist. Demokratisch ist, dass Sprecher*innen wählen können, entblößend ist, dass sie durch ihre Wahl ihre Weltsicht offenlegen.

Grammatik ist nicht gleich Rechtschreibung

Herr Ploß spricht davon, dass an deutschen Schulen die deutsche Grammatik gelten soll. Er spricht nicht von deutscher Rechtschreibung, sondern von Grammatik. Die Rechtschreibregeln, die der Rechtschreibrat festlegt, regeln die Zuordnung von Lauten zu Buchstaben, die Getrennt- und Zusammenschreibung, Verwendung von Bindestrichen, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung. Geregelt ist der Bereich der RechtSCHREIBUNG. Die Grammatik der deutschen Sprache ist davon nicht betroffen. Für diese gibt es auch kein Norminstanz, die sagt, dies ist ein Verstoß gegen eine offizielle Grammatikregel. Eine solche Regel könnte etwa sein, dass das Komparandum bei Komparativen mit als und nicht mit wie eingeleitet wird (Mein Hund ist größer als mein Goldfisch und nicht Mein Hund ist größer wie mein Goldfisch). Eine amtliche deutsche Grammatik gibt es aber nicht.

Die Gleichsetzung von Orthografie und Grammatik ist ein häufiger laienlinguistischer Fehler. Laienlinguistik ist hier das wichtige Stichwort.

Genderideologie

Unter einer Ideologie wird ein in der Regel recht starres Weltanschauungssystem. Verfechter geschlechtergerechter Sprache werden gerne als „Genderideologen“, so auch Herr Ploß, bezeichnet. Umgekehrt lässt sich aber treffend sagen, dass die eigentlichen Genderideologen diejenigen sind, die geschlechtergerechte Sprache mit aller Vehemenz bekämpfen. Sie wollen, dass Menschen sich einer bestimmten Sprachnorm fügen. Sie wollen, dass Sprache sich nicht wandelt, sondern sprachlich ein konservatives Wertesystem reflektiert wird. Die christliche Familienideologie – zwei Geschlechter und der Mann ist der Chef der Familie – unterliegt dem Sprachsystem, das mit aller Vehemenz verteidigt werden soll. Welche Argumente werden dafür hervorgebracht? Ehrlich gesagt sind die Argumente zweifelhaft und in aller Regel vor allem eines, nämlich nicht sprachwissenschaftlich. Solche „Argumente“ finden sich etwa auf den Seiten des Vereins für deutsche Sprache. Unter anderem heißt es, dass ‚Gendern unwissenschaftlich sei‘, wobei Jahrzehnte sprachwissenschaftlicher Forschung zu dieser Thematik geflissentlich ignoriert werden. Auch die Idee, dass ‚Gendern grundgesetzwidrig sei‘, kann durch nichts gedeckt werden. Diese Argumente stammen in aller Regel von Laienlinguisten, was auch sehr gut erklärt, warum sie keine linguistischen Argumente sind.

Wenn mir mein 80jähriger Nachbar rät, dass ich mir ein totes Eichhörnchen um die Brust binden sollte, wenn ich keine Luft kriege, sollte ich das tun? Mein Nachbar könnte sich darauf berufen, dass er Laienpneumologe ist, da er seit 80 Jahren erfolgreich atmet. Aber ganz ehrlich, reicht das? Ich würde dann doch lieber einen echten Pneumologen aufsuchen und meine Atemprobleme vom Experten behandeln lassen. Warum sollte wir dann den Laienlinguisten in Bezug auf geschlechtergerechte Sprache vertrauen? Nur weil sie sprechen können? Die Fähigkeit grammatikalisch wohlgeformte Sätze zu bilden macht niemanden zu einem Linguisten.

Abschließend eine Bitte an Herr Ploß und andere Politiker, die sich mit Sprache beschäftigen wollen: Wissenschaft ist keine Ideologie, sondern liefert intersubjektiv nachvollziehbare Daten und deren Interpretation. Vertrauen Sie also denen, die Ahnung haben und nicht dem schrulligen Nachbarn, der nicht mehr vorweisen kann als schon Jahrzehnte erfolgreich gesprochen zu haben.

Abschließender Hinweis: Wer glaubt, dass das Gendern unwissenschaftlich sei, sollte einmal das Einführungsbuch Genderlinguistik von Damaris Nübling & Helge Kotthoff (Narr Verlag) lesen.

P.S. Wann sprechen wir eigentlich von Rechtschreibfehlern und wann bewegen wir uns im recht(schreib)freien Raum? Wie auch immer: Dies ist kein Text aus Schule, Verwaltung oder Rechtspflege, daher steht er eigentlich außerhalb des Zwangs der amtlichen deutschen Rächtsschraibung.

Wie wurden aus Aktivistis Aktivisti?

Ein paar Beobachtungen zur Chronologie beider Formen

Ich hatte vor kurzem hier darüber geschrieben, dass ich zwei Sexus-neutrale Formen – Aktivisti und Aktivistis – zur Bezeichnung einer Gruppe von Aktivist*innen gibt. In dem Zusammenhang hatte ich die Idee, dass das –i, das zur Pluralmarkierung bei Aktivisti dient, als Teil des Stammes reanalysiert wurde und dadurch die Pluralbildung mit -s motiviert wurde.

Jetzt habe ich mir aber einmal versucht die Vorkommen der beiden Daten etwas genauer zu datieren. Beides ist gar nicht so einfach zu machen. Aber ein paar Ergebnisse habe ich doch. Zunächst einmal zum Deutschen Referenzkorpus (DeReKo). im Archiv W kommen beide Formen vor. Der früheste Beleg für Aktivisti stammt aus dem August 2020:

„Die haben uns teilweise schon vor den Aktivisti mitgenommen“, erzählt Fotojournalistin Doneck.

(T20/AUG.01825 die tageszeitung, 26.08.2020, S. 25; Mitgegangen,)

Für Aktivistis ist der erste Beleg auf Oktober 2019 datiert:

Was sich die Aktivistis aber erhoffen, ist, von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

(B19/OKT.00854 Berliner Zeitung, 12.10.2019, S. 12; „Wie peinlich, dass sie das tun müssen“)

Eine Googlerecherche untermauert diese Ergebnisse. Für Aktivisti habe ich keien Belege gefunden, die sich früher als 2020 datieren lassen. Für Aktivistis findet sich dagegen ein Belege, der aus dem Juni 2019 stammt: „Fridays for Future“-Aktivistis bei legaler Sprühaktion von Polizei umstellt. Es lassen sich sogar noch frühere Belege finden, die sich durch die Webseite auf das Jahr 2016 datieren lassen: Die Bauten hätten nicht den gültigen Bauregeln entsprochen, die Aktivistis wären somit gefährdet gewesen. Es spricht also einiges dafür, dass Aktivistis die ältere der beiden Formen ist. Damit ist es plausibel anzunehmen, dass sich Aktivisti aus der Form Aktivistis entwickelt hat. Aber wie?

Es ist auffällig, dass ich keinen Beleg für Aktivisti mit sigularischer Referenz gefunden habe. Damit dürfte die Pluralform Aktivistis immer in Opposition zu den Singularformen Aktivist und Aktivistin gestanden haben. Damit aus dem -i eine Sexus-neutrale Pluralmarkierung werden kann, muss es zunächst einmal als Bestandteil der Pluralmarkierung in Aktivist-is interpretiert werden. Ob es als Bestandteil der Pluralmarkierung startete oder mit einer anderen Funktion – z.B. als stammbildendes Element für einen Sexus-neutralen Stamm – ist eine andere Frage. Ausgehend von dem is-Plural konnte das -s getilgt werden. Mir ist nicht klar, was die Motivation dahinter gewesen sein könnte. Vielleicht war die Motivation, dass ein i-Plural die Sexusneutralität stärker hervorhebt? Vielleicht wurde das -i als ausreichende Pluralmarkierung interpretiert, sodass das -s fallengelassen werden konnte. Vielleicht dient die Reduktion auf die i-Form auch nur der stärkeren Abhebung von anderen Formen? Basierend auf einem Einzelfall will ich diese Frage nicht beantworten.

Was kann man nun also sagen? Aktivisti ist chronologisch nach Aktivistis anzusiedeln, beides sind Pluralformen, denen keine Sexus-neutrale spezifische (d.h. andere als Aktivist, bzw. Aktivistin) Singularform korrespondiert. Es handelt sich also um die Entwicklung einer Sexus-neutralen Pluralform, ohne entsprechende Sexus-neutrale Singularform.

Aus Aktivisti werden Aktivistis

Rivalisierende geschlechtsneutrale Formen

In verschiedenen Texten zur Klimaschutzbewegung – über die Bewegung und von Aktivisten der Bewegung – findet sich die Form Aktivisti. Diese Form hatte ich in einem anderen Beitrag als Gender-neutrale Pluralform beschrieben, da man Beispiele wie das folgende finden kann:

Dennoch wurden die drei Pressevertreter*innen nacheinander abgeführt. „Die haben uns teilweise schon vor den Aktivisti mitgenommen“, erzählt Fotojournalistin Doneck.

(T20/AUG.01825 die tageszeitung, 26.08.2020, S. 25; Mitgegangen)

Im Satzkontext wird eindeutig klar, dass Aktivisti eine Pluralform ist, den in der Präpositionalphrase ist hier eindeutig eine pluralische Kongruenzform. Damit wäre -i eine sprachliche Form, die Pluralität ausdrückt, dabei bei belebten Referenten aber keine Spezifizierung des Sexus verlangt und ein Ersatz für (z.B.) Aktivist*innen darstellt.

In letzter Zeit bin ich ein paar Mal über die Form Aktivistis gesteuert, also Aktivisti mit einer Pluralmarkierung. Das folgende Beispiel belegt diese Form:

Kleiner Kulturschock bei den Aktivistis

(Kolumne: Mein erstes Mal Mein erstes Mal als Aktivist)

Was ist hier passiert? Das -i wurde als Singularform reinterpretiert und damit als Bestandteil des Stamm aufgefasst. Der Stamm Aktivisti referiert damit auf aktivistische Person, deren Geschlecht unspezifiziert ist. Durch die Reinterpretation ist eine Numerusmarkierung im Plural nötig, weshalb hier der schöne Defaultplural (-s) auftritt. Ich gebe zu, dass die gerade skizzierte Analyse voraussetzt, dass die Entwicklung ihren Ausgang von Aktivisti nahm. Das wäre aber eigentlich erst noch zu zeigen.

Die Form Aktivistis findet sich auch im Deutschen Referenzkorpus (DeReKo; Archiv W) und kommt dort sieben mal vor. Interessant ist, dass sich die Vorkommen nicht auf die TAZ beschränken, sondern zweimal auch die Berliner Zeitung und einmal die Süddeutsche Zeitung diese Form verwenden.

Was sich die Aktivistis aber erhoffen, ist, von der Politik und der Öffentlichkeit wahrgenommen zu werden.

(B19/OKT.00854 Berliner Zeitung, 12.10.2019, S. 12; „Wie peinlich, dass sie das tun müssen“)

Fridays-for-Future-Sprecherin Luisa Neubauer hingegen schreibt auf Twitter: Olympia kann und soll die wichtige Arbeit von Aktivistis nicht ersetzen.

(U19/NOV.03088 Süddeutsche Zeitung, 26.11.2019, S. 5; Fridays for 29,95 Euro)

Medial ist die Form Aktivistis weiter verbreitet als das pluralische Aktivisti, da ich für pluralisches Akivisti nur Belege aus der TAZ im DeReKo fand. Aktivistis scheint zudem einen weiteren Anwendugskontext zu haben als das pluralische Aktivisti, denn Aktivistis tritt nicht nur im Zusammenhang mit der Klimaschutzbewegung auf, sondern auch im Zusammenhang mit antifaschistischen Aktivistis:

Es gab mal eine Zeit, da bedeutete antifaschistische Aktion selbst bei den Aktivsten unter den Aktivistis eine zwar wichtige, mitunter stressige und auch gefährliche Beschäftigung – aber zumindest eine für den Feierabend und das Wochenende.

(T21/OKT.01290 die tageszeitung, 19.10.2021, S. 23; Planungssicherheit für Antifas)

Interessant ist, dass in den Daten aus dem DeReko keine singularische Verwendung von Aktivisti vorkommt. Das heißt aber nicht, dass diese Form nicht irgendwo anders belegt ist. Ihr Vorkommen würde ich zumindest erwarten.

Ganz spannend finde ich, dass es gegenwärtig zwei Tendenzen in der Bildung Sexus-neutraler Pluralformen für Aktivist gibt und es lohnt sich zu beobachten, ob sich eine dieser Formen über längere Sicht durchsetzen wird und wenn ja, welche. Diese Formen erlauben es uns Sprachwandel direkt zu beobachten und geben Einblick in die von Sprechern bewusst gesteuerte Entwicklung geschlechtsbewusster Sprachformen.

Aktivisti

Geschlechtsneutraler Plural in der Klimaschutzbewegung

In den letzten Tagen wurde das Thema ‚Gendern‘ wieder heiß diskutiert. Anlass war ein Aufruf einiger Sprachwissenschaftler gegen geschlechterbewusste Sprache. Es gab allerlei Kritik an diesem Aufruf, eine gute und sachliche Kritik aus der Mitte der aktiv zu diesem Thema forschenden Sprachwissenschaft hat Damaris Nübling in einem Interview in der FAZ formuliert.

Von Kritikern des Genderns, bzw. der Verwendung einer geschlechterbewussten Sprache werden unterschiedliche Kritikpunkte hervorgebracht. Einige der Kritikpunkte betreffen explizit die sprachliche Sichtbarmachung der Geschlechter mittels Gendergap (Aktivist_innen), Binnenmajuskel (AktivistInnen), Doppelpunkt (Aktivist:innen) oder Genderstern (Aktivist*innen). Unter anderem kann man lesen, dass diese Formen nicht durch die amtliche Rechtschreibung gedeckt seien. Stimmt, aber an die amtliche Rechtschreibung sind lediglich der Schulunterricht sowie Beamte und Angestellte bei Bund und Ländern gebunden. Außerhalb dieser Kontexte kann jede und jeder schreiben wie er will. Desweiteren liest man häufig, dass die oben genannten Formen ’sprachfremd‘ seien und künstlich in das (Schrift)Deutsch eingeführt werden würden. Außerdem heißt es, diese Formen seien unpraktisch oder unästhetisch. Die letzten beiden Punkte sind Fragen des persönlichen Geschmacks. Die ‚Sprachfremdheit‘ der Formen finde ich dagegen schwerer zu bewerten. Aber sei’s drum, denn es gibt eine geschlechtsneutrale Form, die von keinem dieser Kritikpunkte betroffen ist: der Plural Aktivisti.

Bei Aktivisti wird -i als Sexus-neutraler Pluralmarker verwendet. An den Stamm Aktivist wird also ein -i gehängt. Mit dieser Form, die nicht für Sexus spezifiziert ist, können somit alle Geschlechter gemeint sein, die Form ist für kein Geschlecht spezifisch. Diese Form ist nicht ’sprachfremd‘, wie es manchmal den Formen mit Genderstein oder Gendergap vorgeworfen wird. Das -i tritt beispielsweise in der Bildung von Koseformen (Papi, Mami, Omi, Opi) auf, aber auch in gekürzten Formen wie Stasi (von Staatssicherheitsdienst, bzw. Ministerium für Staatssicherheit) oder Ami (von Amerikaner). Im Unterschied zu Aktivisti stellen aber weder Papi noch Stati geschlechtsneutrale Plurale dar. Eine solche Pluralform ist mir bislang nur in mit dem Stamm Aktivist begegnet. Im Deutschen Referenzkorpus (Archiv W) habe ich sieben Belege für Aktivisti gefunden, die allesamt aus der TAZ stammen und aus den Jahren 2020, bzw. 2021 datieren. Die sieben Beiträge haben allesamt mit der Klimaschutzbewegung zu tun, wie zwei der Beispiele belegen. Interessant an dem ersten Beispiel ist, dass die TAZ zwei Sexus-neutrale Formen nebeneinander verwendet: Aktivisti im ersten Satz und Aktivist:innen im dritten.

Auf einem davon, in etwa zwanzig Meter Höhe, steht Feda, einer der Aktivisti vor einer zweistöckigen Holzkonstruktion, an der er selbst mitgebaut hat. „Pfuschbau“ heißt das Baumhaus auf der alten Eiche. Unter ihm am Boden haben Aktivist:innen von Ende Gelände in weißen Maler:innen-Anzügen Barrikaden aus Baumstümpfen und Zweigen um das Barrio errichtet und Tripods aufgestellt. 

(T20/DEZ.00465 die tageszeitung, 07.12.2020, S. 8; Abschied)

Das Schicksal des vom Abriss bedrohten Lützerath im rheinischen Braunkohlerevier ist weiter ungewiss. Laut Koalitionsvertrag sollen die Gerichte über die Zukunft des Dorfs entscheiden – was bei BewohnerInnen und Aktivisti auf Unverständnis stößt.

(T21/NOV.01661 die tageszeitung, 26.11.2021, S. 8; Lützerath in der Hand der Justiz)

Sucht man im Internet, finden sich weitere Belege für Aktivisti. Unter anderem kommtdas Wort in einem Bericht auf der Homepage des Goethe-Instituts in Belgien vor. Auch in diesem Artikel geht es um die Klimaschutzbewegung. Da die Pluralform Aktivisti meistens – oder immer? – im Klimaschutzkontext vorkommt, ist es naheliegend, dass die Form aus der Klimaschutzbewegung kommt. Aktivisti ist eine Form des Sprachgebrauchs, die sich jedoch bislang noch keine weitere Geltung verschaffen konnte. Auch in der TAZ, wie oben schon erwähnt, alterniert diese Form mit zum Beispiel Aktivist:innen. Es wäre interessant zu wissen, ob Aktivisti die einzige auf diese Weise gebildete Sexus-neutrale Pluralform ist. Es wird auperdem interessant sein zu sehen, ob sich diese Bildungsweise zu einem Muster entwickelt, das zur Bildung weiterer Sexus-neutraler Plurale dient.

Nachtrag (11.08.2022): Eine Pluralbildung mit –i gibt es für aus dem italienischen entlehnte Worte im Deutschen, zum Beispiel Tempo vs. Tempi. Ich bezweifel aber, dass der i-Plural in Analogie zur Pluralbildung entlehnter italienischer Worte entstand. Vieleicht ist hier eher der Umstand relevant, dass das -i im Deutschen sowieso vermehrt als Suffix auftrifft, etwa auch in Hambi und Lützi, zwei weitere Wörter aus der Klimaschutzbewegung.