Zu Fabian Payrs Vorwurf, dass Gendern grundgesetzwidrig sein könnte
Der Begriff ‚Gendern‘ wird häufig gebraucht, um auf die Verwendung geschlechter-gerechter oder -sensibler Sprache zu verweisen. Darunter fallen sprachliche Mittel wie die Beidnennung – Ärzte und Ärztinnen – , aber auch Genderstern (Ärzt*innen) oder Gendergap (Ärzt_innen). Der Unterschied in diesen Techniken besteht unter anderem darin, dass mit der Beidnennung im binären Spektrum (männlich & weiblich) verblieben wird, Genderstern und -gap zusätzlich noch ‚divers‘ (nicht-binär) als Kategorie umfasst.
Das Ziel hinter der Verwendung geschlechter-gerechter Sprache ist die sprachliche Sichtbarmachung aller Geschlechter. Anders gesagt: es soll explizit gemacht werden, über wen gesprochen wird. Dass dies nicht immer nötig ist, ist klar. Aber manchmal ist es eben doch nötig, damit deutlich wird, dass nicht nur Männer gemeint sind [dies habe ich hier beschrieben]. Soweit die Idee, die nicht allen Menschen behagt.
Unter dem Label ‚Genderkritiker‘ lassen sich Menschen zusammenfassen, die aus verschiedensten Gründen die Verwendung geschlechter-gerechter Sprache ablehnen. Einige Menschen tun dies ganz individuell, andere machen dies in einer institutionalisierten Weise und organisieren zum Beispiel Volksentscheide gegen das Gendern. Im politischen Spektrum scheint die Ablehnung geschlechter-gerechter Sprache um so anschlussfähiger zu sein, je weiter die politische Position im konservativen, bzw. rechten Spektrum verankert ist. Im konservativen Bereich finden wir eine deutliche Ablehnung geschlechter-gerechter Sprache bei CDU/CSU und Freien Wählern. Im rechten Spektrum greift die AfD das Thema auf.
Heißt das nun, dass alle Genderkritiker*innen eher in der rechtskonservativen, bzw. -populistischen Ecke zu verorten sind? Nein, diese Schlussfolgerung wäre falsch. Es gibt jedoch auch ein großes ABER. Das Thema ‚Genderkritik‘ scheint eine Breite gesellschaftliche Anschlussfähigkeit aufzuweisen, die über die engeren parteipolitischen Grenzen hinausgeht. Somit scheinen einige Menschen für dieses Thema empfänglich zu sein. Argumente gegen die Verwendung geschlechter-gerechter Sprache können bei diesen Menschen leicht verfangen. Leider kursieren aber viele Pseudoargumente, die gelegentlich mit einigem Wissenschaftsskeptizismus einhergehen. Genderkritik kann in einem solchen Fall ein Einstieg in eine allgemeinere Wissenschaftskritik und damit der Übergang zu Verschwörungstheorien darstellen. Dies läuft nach dem Motto: Wenn diese ganze Gendersache nur fake ist, warum sollte das mit dem Klimawandel dann nicht auch gefakt sein? RechtspopulistIsche und -extreme Gruppen machen sich dies zunutze und verknüpfen die Genderkritik mit anderen ’skeptizistischen‘ und ‚kritischen‘ Positionen, zum Beispiel dem Klimawandelskeptizismus, der EU- und Elitenkritik, und natürlich der oben schon genannten Wissenschaftskritik.
Gerade bei der Genderkritik – eben weil sie so niederschwellig zu sein scheint – ist es wichtig, dass die vermeintlichen Argumente besonders kritisch hinterfragt werden. Da 2024 das 75. Jubiläum des Grundgesetztes gefeiert wird, möchte ich gerne dem Argument, dass Gendern grundgesetzwidrig sein könnte, nachgehen. Spielt dieses Argument wirklich eine Rolle im Diskurs? Behauptet dies jemand? Ja, dieses Argument hat Fabian Payr in seinem Buch Von Menschen und Mensch*innen vorgebracht. Der Verein für deutsche Sprache (VdS) hat dieses und die 19 weiteren Argumente Payrs auf seiner Homepage veröffentlicht. Der VdS ist ein Sprachverein, der das Deutsche vor Anglizismen und dem Gendern bewahren will. Laut Wikipedia hat der Verein rund 36.000 Mitglieder (Juni 2021), darunter einige Prominente und ist bei den Volksentscheiden gegen das Gendern mit aktiv. Dadurch, dass der VdS die 20 Argumente Payrs auf seine Homepage stellt, macht er sich diese zu eigen (zumindest distanziert sich der Verein an keiner Stelle von einem der Argumente). Damit kommt diesem Argument dann eben doch ein gewisses Gewicht zu, da der VdS auch als Lobbyverein registriert ist und somit seine Positionen aktiv in die Politik trägt.
Nun zum Argument, so ist der Wortlaut: Die Gendertechniken der Sichtbarmachung können als grundgesetzwidrig bezeichnet werden, weil sie den Menschen als Rechtssubjekt aus dem Auge verlieren. Sekundäre Attribute wie Geschlecht oder sexuelle Orientierung, die für den Kern des Menschseins nicht relevant sind, werden in den Vordergrund gestellt. (Payr 2022: 145)
Zunächst ist festzuhalten, dass Payr nicht sagt, Gendern verstoße gegen das Grundgesetz. Er formuliert im Konjunktiv und spricht davon, dass „[d]ie Gendertechniken der Sichtbarmachung“ – also zum Beispiel der Genderstern – als „grundgesetzwidrig bezeichnet werden“ können. Aber warum? Weil sie den Menschen als Rechtssubjekt aus den Augen verlieren. Hier müsste erst einmal kritisch gefragt werden, wie denn Gendertechniken der Sichtbarmachung Menschen als Rechtssubjekt aus den Augen verlieren können? Vermutlich meint Payr, dass durch diese Techniken der Mensch als Rechtssubjekt aus den Augen verloren geht. Die Frage ist dann nur, wer denn derjenige ist, der die Menschen als Rechtssubjekt aus den Augen verlieren soll. Gegen die Verwendung geschlechter-gerechter Sprache wird manchmal eingewendet, dass Gesetzestexte nicht mehr klar formuliert wären. Aber der Verzicht auf geschlechter-gerechte Sprache führt nicht automatisch, wie Payr zeigt, zu stärker Präzision in der Formulierung.
Warum sollten Menschen denn nun als Rechtssubjekt aus den Augen verloren gehen, wenn gegendert wird? Weil, so Payr, sekundäre Attribute in den Vordergrund gestellt werden. Die vermeintliche Betonung dieser sekundäre Attribute haben zur Folge, dass das Rechtssubjekt degradiert wird. Unter dem Begriff ’sekundäre Attribute‘ fasst Payr das Geschlecht und die sexuelle Orientierung.
Sexuelle Orientierung? Was hat Gendern mit sexueller Orientierung zu tun? Es gibt keine ‚Gendertechnik der Sichtbarmachung‘ die hetero-, homo-, bi- oder asexuell bedeutet. Sexuelle Orientierung hat überhaupt nichts mit Gendern zu tun. Payr stellt durch den Verweis auf die sexuelle Orientierung die Ablehnung geschlechter-gerechter Sprache in einen Kontext mit der Ablehnung nicht-heterosexueller Lebensweisen. Nicht nur macht Payr eine offensichtlich falsche Behauptung, er versucht zugleich negative Einstellungen aus einem anderen Bereich auf das Gendern zu übertragen. Dies macht nicht nur er. Die Junge Union München Nord hat eine Kampagne mit dem Titel „Gendern? Nein danke“ und hat in diesem Rahmen einen Aufkleber mit der Aufschrift „Mutter & Vater statt Elternteil – Gender? Nein danke!“ vertrieben. Auch hierwird das Gendern wieder unter Rückgriff auf ein heteronormatives Weltbild abgelehnt. Der Aufkleber suggeriert, dass Gendern gegen das traditionelle Familienmodell spräche. Aber das ist Unfug: mensch kann gendern und dennoch eine klassische heterosexuelle Beziehung haben.
Ignorieren wir im weiteren Payrs unbegründeten Bezug auf sexuelle Orientierung. Er spricht nun davon, dass Geschlecht (als sekundäres Attribut) für den Kern des Menschseins nicht relevant sei. Was der Kern des Menschseins ist, ist sicherlich eine spannende philosophische Frage. Payr gibt uns keine klare Antwort auf diese Frage und versteckt sich hinter einem toll klingenden Begriff, der aber mehr als nur vage ist. Warum sollte nun das Geschlecht nicht zum Kern des Menschseins gehören? Wenn das Geschlecht nicht zum Kern des Menschseins gehört, warum spielt es dann so eine große Rolle? Warum muss ich in Formularen angeben, ob Herr oder Frau? Warum gibt es so eine große Empörung, wenn es mehr als zwei Geschlechter geben soll? Warum gibt es dann Herren- und Damentoiletten und nicht einfach ‚All gender‘-Toiletten? [Natürlich stellt sich auch die Frage, was denn eigentlich die primären Attribute sind? Geschlecht und sexuelle Orientierung gehören nicht dazu, aber irgendetwas müsste ja doch den Kern des Menschseins ausmachen. Ein Rechtssubjekt zu sein, kann dies nicht sein, sonst müsste Payr ja davon sprechen, dass Gendern entmenschlichend wirkt.]
Der ‚Kern des Menschseins‘ ist vielleicht philosophisch spannend, ich kann aufgrund seiner Vagheit damit aber wenig anfangen. Aber Payrs Argument geht ja noch weiter. Der Mensch wird als Rechtssubjekt aus den Augen verloren, wenn die sekundären Attribute (die nicht zum Kern des Menschseins gehören) betont werden. Fangen wir einmal mit der Frage an, was denn ein Rechtssubjekt ist. Definiert ist es als „Träger von Rechten und Pflichten, der Rechtsfähigkeit hat. Jede natürliche oder juristische Person ist ein R.“ (Definition ‚Rechtssubjekt‘ im Rechtslexion). Ein Rechtssubjekt kann eine juristische Person sein, zum Beispiel ein Verein. Aber auch natürliche Personen sind Rechtssubjekte. Aber warum sollte eine natürliche Person weniger ein Rechtssubjekt sein, wenn wir sie als Lehrerin bezeichnen, statt nur als Lehrer?
In der Argumentation fehlen mehrere Schritte, bzw. Begründungen: Erstens, warum sollten Rechtssubjekte aus den Augen verloren gehen, wenn vermeintlich sekundäre Attribute betont werden? Zweitens, warum sollte es grundgesetzwidrig sein, wenn das Rechtssubjekt aus den Augen verloren geht. Ich bin kein Jurist, aber eine einfache elektronische Suche im Grundgesetz erbrachte, dass der Begriff Rechtssubjekt dort nicht vorkommt. Geschlecht aber mehrfach. In Artikel 3 heißt es, dass „[n]iemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden“ darf. Im selben Artikel steht, dass Männer und Frauen gleichberechtigt sind und der Staat „die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männer“ fördert. In meiner naiven Interpretation lese ich daraus, dass die sprachliche Sichtbarmachung der Geschlechter nicht gegen das Grundgesetz verstößt. Vielleicht ist diese Sichtweise aber doch gar nicht so naiv, wie dieser Artikel in der Zeit zeigt. Aber zurück zu Payrs Argumentation.
Es bleibt festzuhalten, dass die Argumentation an verschiedenen Stellen Schwachpunkte aufweist. Mehrere Schritte in der Argumentation weisen keine Begründung auf. Ein paar Begriffe sind unklar verwendet und dann kommt hinzu, dass Pays ein falsches Verständnis von dem, was ‚Gendern‘ macht, hat. Problematisch ist, dass mit dieser unsauberen Argumentation suggeriert werden soll, dass die Verwendung geschlechter-gerechter Sprache juristisch problematisch sei, die Gegenposition – also die Ablehnung geschlechter-gerechter Sprache – dagegen vom Grundgesetzt gestützt werde. Damit wird versucht das Grundgesetz als Legitimation für eine genderkritische Position heranzuziehen.
Das Problem ist nicht, dass es dieses eine merkwürdige genderkritische Argument in der Debatte gibt. Das Problem ist, dass der VdS mit seinen angeblich 36.000 Mitgliedern sich dieses Argument zumindest indirekt zu eigen macht. Das Problem ist weiterhin, dass es nicht dieses eine verquere Argument ist, sondern zahlreiche inhaltlich unzureichende und teilweise falsche Argumentationen kursieren. Wenn es nun heißt, dass ein hoher Anteil Befragter das Gendern ablehne, dann ist die Frage, inwiefern sie doch solche Fakeargumente wie das von Payr einen falschen Eindruck von geschlechter-gerechter Sprache bekommen haben. Wie sollen Menschen sich ein unvoreingenommenes Urteil über geschlechter-gerechte Sprache bilden, wenn in der öffentlichen Debatte Fakeargumente und falsche Behauptungen (z.B. Gendern diene dem Ausdruck sexueller Orientierung) kursieren? Für eine echte kritische Debatte wäre es ein großer Gewinn, wenn die falschen Argumente als solche entlarvt und nicht mehr repliziert werden würden. Wie auch in der Klimadebatte ist es nun Aufgabe der Medien und der Politik nicht auf Pseudoexperten und ihre Argumente reinzufallen, sondern sich die Mühe zu machen und statt einfacher plakativer Aussagen auf die (bisweilen komplexeren und weniger klar polarisierenden) Aussagen echter Experten zu achten.
Das Grundgesetz sichert zwar auch die Meinungsfreiheit zu, aber nicht jede Meinung stellt zugleich eine wissenscgaftlich fundierte Aussage dar. Genderkritik ist, wie oben geschrieben, eine für zahlreiche Menschen anschlussfähige Position. Damit kann die Genderkritik einen niederschwelligen Einstieg in wissenschaftsskeptische und verschwörungstheoretische Positionen darstellen. In verschiedenen Diskussionen spreche ich von Genderkritik als Einstiegsdroge in rechte Verschwörungstheorien. Die Auseinandersetzung mit Fakeargumenten zum Thema Gendern leistet somit auch einen Beitrag zum Erhalt der Demokratie!
Quellenangabe:
Payr, Fabian. 2022. Von Menschen und Mensch*innen. 20 gute Gründe, mit dem Gendern aufzuhören. Wiesbaden: Springer.