Töte meine Tochter und brate mir ihre Lunge

Dürfen sich Märchen verändern?

Würden Sie einem kleinen Kind eine Geschichte vorlesen, in der die Mutter das eigene Kind aus Neid versucht zu töten? Würden Sie es tolerieren, wenn eine Mutter die Lunge der eigenen Tochter essen will? Wäre eine Liebesbeziehung zu einem verstorbenen Märchen – nicht in Form einer romantischen Vampirgeschichte – passend für Kinder? Wenn Sie eine dieser Fragen mit Nein beantwortet haben, dann sollten Sie ihren Kindern nicht ‚Schneewittchen‘ vorlesen. Vielleicht gehört ‚Schneewittchen‘ aber trotzdem zum Vorlese- oder Videoklassiker bei Ihnen zuhause? Es scheint jedenfalls einige Menschen zu geben, die ein enges Verhältnis zu dem Märchen aufweisen, denn momentan gibt es in den (sozialen) Medien einige Diskussionen bezüglich einer Neuverfilmung des Märchens Schneewittchen. Disney hat für die Neuauflage des Märchenklassikers einige Veränderungen vorgesehen: Schneewittchen soll von einer lateinamerikanischen Schauspielerin gespielt werden, die sieben Zwerge sollen durch sieben Wesen ersetzt werden, von denen eines unter anderem weiblich ist.

Ein kleinwüchsiger Schauspieler hatte das Zwergenklischee im Vorfeld kritisiert und nun läuft in den (sozialen) Medien eine Protestwelle auf, in denen von Cancel Culture und Verfälschungen des Märchens, ganz allgemein unter dem Stichwort ‚Wokeness‘, gesprochen wird. Die wesentlichen Probleme sind, wie es scheint, dass Schneewittchen in der Neuverfilmung keine weiße Hautfarbe hat und die Zwerge keine Zwerge mehr sind. Es scheint, dass damit für einige Menschen eine Art Tabu gebrochen wurde, denn Grimmsche Märchen zu verändern, das geht nun wirklich nicht.

Die Brüder Grimm haben selbst sehr eifrig ihre eigenen Texte revidiert und in über die Jahre hinweg deutlich verändert. Dies lässt sich sehr leicht überprüfen, wenn mensch die letzte von den Grimms autorisierte Version von 1857 mit der ersten Version von 1812/1815 vergleicht. Wir alle wissen wahrscheinlich, dass Schneewittchens Mutter bei der Geburt starb. Es heißt es in der letzten Version: „Und wie das Kind geboren war, starb die Königin„. [Alle Textbelege stammen aus der Online zugänglichen Veröffentlichung der Kinder- und Hausmärchen.] Später heiratet Schneewittchens Vater – der König – dann eine Frau, die zu Schneewittchens Stiefmutter wird und sie aufgrund ihrer Schönheit umbringen lassen will. Die erste Version sieht noch ganz anders aus. Da verstirbt die Mutter nicht und folglich ist es nicht die böse Stiefmutter die neidisch auf Schneewittchen ist, es ist die leibliche Mutter.

Dies mag nur ein kleines Detail sein, es zeigt aber, dass die Grimms selbst ihre Märchen auch inhaltlich veränderten. Irgendwie ist es aber auch sehr grausam, wenn die eigene Mutter einen Mordauftrag erteilt, ein wenig wird diese Grausamkeit dadurch entschärft, dass es in der letzten Version „nur“ die Stiefmutter ist. Insgesamt weist das Märchen viele grausame Stellen auf. So will die Mutter, bzw. Stiefmutter, dass der Jäger Schneewittchen nicht nur tötet, er soll auch noch Organe des getöteten Mädchens mitbringen. In der ersten Version des Märchens heißt es: „Da ließ ihr der Neid keine Ruhe, und sie rief einen Jäger und sagte zu ihm: ‚führ das Sneewittchen hinaus in den Wald an einen weiten abgelegenen Ort, da stichs todt, und zum Wahrzeichen bring mir seine Lunge und seine Leber mit, die will ich mit Salz kochen und essen‘.“ Nicht nur geht es ums Kindstötung, hinzu kommt auch noch Kannibalismus.

Es ist bekannt, dass der Jäger Schneewittchen – oder Sneewittchen wie das Mädchen im Original heißt – nicht tötete, sondern im Wald alleine ließ. Nicht aus purer Gutmütigkeit, denn er ist der Meinung, dass das Kind auch so nicht alleine überleben wird. Tut sie aber doch. Die (Stief-)Mutter fühlt sich dadurch zu mehreren Mordanschlägen auf das Mädchen verführt und scheitert zweimal durch das gerade noch rechtzeitige Eingreifen der sieben Zwerge. Beim letzten Mal kommen die Zwerge vermeintlich zu spät. Sie halten Schneewittchen für tot, betten sie in einen Sarg und stellen sie aus. Dann kommt eine Stelle, die mich sehr irritiert: „Einmal kam ein junger Prinz zu dem Zwergenhaus und wollte darin übernachten, und wie er in die Stube kam und Sneewittchen in dem Glassarg liegen sah, auf das die sieben Lichtlein so recht ihren Schein warfen, konnt er sich nicht satt an seiner Schönheit sehen, und las die goldene Inschrift und sah, daß es eine Königstochter war. Da bat er die Zwerglein, sie sollten ihm den Sarg mit dem todten Sneewittchen verkaufen, die wollten aber um alles Gold nicht; da bat er sie, sie mögten es ihm schenken, er könne nicht leben ohne es zu sehen, und er wolle es so hoch halten und ehren, wie sein Liebstes auf der Welt.“ (Erste Version)Es kommt also ein Prinz daher, der Schneewittchen für tot hält, sich in sie verliebt und – zunächst einmal – den Leichnam den Zwergen abkaufen will. Nur sein Versprechen, dass er die Tote sehr lieb halten wird, ringt den Zwergen das vermeintlich tote Mädchen ab. Strikt genommen liegt hier kein Fall von Nekrophilie vor, da es nicht um sexuelle Handlungen an Toten geht. Aber irgendwie ist das Begehren und Vorgehen des Prinzen doch ein wenig verstörend.      Der Kannibalismus und dieses komische Verhältnis des Prinzen – bzw. in der späteren Variante heißt es ‚Königssohn‘ – zu einer Toten, haben bislang wenig Anlass zur Kritik gegeben. Dass der Kannibalismus dabei in modernen Versionen unter den Tisch fällt – er ist kein Bestandteil der Märchenwiedergabe in Wort oder Film ist – wird ohne Murren hingenommen. Anders sieht es aus, wenn plötzlich Kritik an den Zwergen geäußert wird.

Welche Rolle haben eigentlich die Zwerge in dem Märchen? Die Zwerge retten Schneewittchen ein paar Mal und am Ende bahren sie sie auf. Neben dem Retten scheint ein Aspekt wichtig zu sein, sie wollen Schneewittchen selbst nicht heiraten, denn dies ist die Aufgabe des Prinzen. Vielleicht sind sie deshalb Zwerge, damit sie nicht als potentielle Gatten für das Mädchen in Frage kommen. Einen in der Geschichte verwurzelten Grund, warum es Zwerge sind, gibt es jedenfalls nicht. Hannah Bethke schreibt in einem Kommentar für Die Welt: „Genauso verhält es sich mit der Symbolik der Zwerge: Sie sind Schneewittchen gerade nicht ebenbürtig, sondern verharren in einer bestimmten Entwicklungsstufe. Weibliche Zwerge gibt es im Übrigen nicht.“ Mit dem „genauso“ meint die Autorin, dass die Zwerge nicht diskriminierend seien, kleinwüchsige Menschen sich also nicht durch die Zwergencharaktere diskriminiert fühlen müssten. Wenn aber nun die Kleinwüchsigkeit der sieben Gesellen – das ist das zentrale Element, das die Zwerge in dem Märchen charakterisiert – dafür stehen soll, dass sie Schneewittchen nicht ebenbürtig stehen, empfinde ich das schon als eine diskriminierende Darstellung. Was soll es bedeuten, dass die Zwerge „in einer bestimmten Entwicklungsstufe“ verharren würden? Wird damit suggeriert, dass sie noch keine vollwertigen Menschen sind? Auch das kann durchaus als diskriminierend empfunden werden.

Vielleicht hatten die Grimms keine diskriminierende Intention, aber kleinwüchsige Menschen dürften sich dadurch diskriminiert fühlen. Und wenn sie es tun, dann wäre es auch akzeptabel, wenn Disney darauf reagiert. Aber ob sich kleinwüchsige Menschen diskriminiert fühlen, sollten kleinwüchsige Menschen entscheiden. Patricia Carl-Innig, die Vorsitzende des Bundesverbands kleinwüchsiger Menschen und ihrer Familien e.V., sagte in einem Interview mit dem Klassikradio, dass nicht die Figur der Zwerge das Problem sei – denn als Zwerge sehen sich kleinwüchsige Menschen gerade nicht – , sondern fehlende Vielfalt. Dennoch, so sagt sie auch, haben sich weltweil kleinküchsige Menschen von der Kritik an der Verwendung der Zwerge in der Märchenverfilmung – und natürlich insbesondere an den damit assoziierten Klischees – angesprochen gefühlt.

Also: wer in der Lage ist zwischen Fabelwesen – Zwerge – und kleinwüchsigen Menschen zu trennen, der oder die wird Schneewittchen wohl nicht als diskriminierend empfinden. Aus dem ganz einfachen Grund: Zwerge gibt es nicht. Ob es aber so einfach ist und die Assoziationen, die beispielsweise Frau Bethke bezüglich der Zwerge hat, auch nur auf diese Märchenfiguren beschränkt bleiben, ist eine andere Frage. Dem Problem kann jedenfalls entgangen werden, wenn die Zwerge durch andere, weniger menschliche Figuren ersetzt werden. Für die Geschichte selbst ist es unerheblich, ob Schneewittchen bei sieben Zwergen oder sieben aufrechtgehenden Heuschrecken unterkommt.

Wie steht es nun um Schneewittchen? Frau Bethke hat auch da eine Position: „Im Märchen der Gebrüder Grimm heißt es bekanntermaßen: Das „Töchterlein“, das die Königin gebar, „war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz, und war darum das Sneewittchen (Schneeweißchen) genannt“. Die weiße Haut von Schneewittchen ist ein Symbol für Unschuld, so wie das Rot Sexualität symbolisiert. Das hat nichts mit Rassismus zu tun.“ Sie hat Recht damit, dass die Farben symbolisch für Unschuld und Sexualität stehen. In einem Film kann Unschuld aber auch anders als durch weiße Hautfarbe symbolisiert werden. Es ist also auch hier wieder nicht notwendig, dass das Grimmsche Märchen buchstabengetreu umgesetzt wird.

Statt von Cancel Culture, Wokeness oder „linksidentitären Transformationszwang“ (Hannah Bethke) zu sprechen, sollte lieber der Grimmsche Umgang mit den Texten befolgt werden. Die Texte selbst sind nicht sakrosankt, vielmehr dienen sie dazu bestimmte Ideen – im Falle der Grimms durchaus auch (sprach)politische Ideen – zu transportieren. So wie die Grimms ihre Texte immer wieder verändert haben, sollten wir uns auch offen zeigen dafür, dass die Texte nicht final sind, sondern immer weiter optimiert werden können. Das betrifft Form und Inhalt der Texte. Immerhin scheint sich ja auch kein Mensch darüber aufzuregen, dass aus der neidischen Mutter mit Tötungsabsicht eine neidische Stiefmutter mit Tötungsabsicht wurde.   

Diesen Beitrag habe ich mit der Frage – dürfen sich Märchen verändern? – übertitelt. Meine Antwort ist: gerade die Märchen der Brüder Grimm wurden schon immer – ganz besonders von den Brüdern Grimm – verändert. Wenn die Grimms es getan haben, was sollte also schlimm daran sein? Und warum sollte es schlimm sein, wenn eine Märchenadaption vielfältiger – Schneewittchen dargestellt von einer Latina – und weniger diskriminierend ist? Anscheinend gibt es ja Menschen, die die Zwerge und die mit ihnen verknüpften Assoziationen als diskrimierend empfinden. Wer solche Veränderungen als ‚woke‘ oder ‚linksidentitär‘ empfindet, muss erklären, warum der Originaltext – welcher ist es denn eigentlich – so viel besser sein soll!

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