Wie generisch ist das Maskulinum?
Der Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen ist nicht weiter ungewöhnlich. Dennoch gibt es Streit darüber, was er bedeutet. Konkret geht es um das Nomen Richter. Bezieht sich Richter nur auf Personen männlichen Geschlechts oder können mit dem Nomen Männer und Frauen gemeint sein? Letztere Idee steht hinter der Hypothese des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘. Diese besagt konkret: maskuline Nomen zur Personenbezeichnung beziehen sich nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen. Diese Hypothese muss etwas eingeschränkt werden, es geht dabei natürlich nur um Nomen, die nicht aufgrund ihrer Bedeutung nur Männer meinen, zum Beispiel die Nomen Mann, Vater oder Opa. Nomen, die keine Personen bezeichnen (der Ball, der Sturm, der Winter) sind von der Hypothese ebenfalls ausgeschlossen, da Geschlecht (oder auch Sexus) eine Eigenschaft belebter Individuen ist.
Ist es möglich mit Richter Männer und Frauen bezeichnen? Natürlich scheint es möglich zu sein, aber fühlen sich Frauen davon auch angesprochen. Aber vielleicht ist das ’natürlich scheint es möglich zu sein‘ auch etwas übereilt. Wie sieht es denn mit dem Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen aus? Dass er seltsam klingt liegt an der Kombination aus er und Baby stillen. Ein Baby stillen bedeutet, dass Baby über die Brust mit Muttermilch füttern. Männer können das nicht.
Wäre Richter eine wirklich generische Form – im Sinne dessen, dass das Nomen Bezug auf Personen jeglichen Geschlechts erlaubt – , sollte der obige Satz nicht seltsam erscheinen. Können wir ihn besser machen, vielleicht wenn wir er durch sie ersetzen? Der Richter kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen. Irgendwie klingt der Satz aber auch nicht besser, was nahelegt, dass es nicht am Pronomen, sondern wirklich an dem Nomen Richter liegt, das nicht gut mit Tätigkeiten assoziiert werden kann, die von Männern nicht ausführbar sind.
Wenn ich schreibe ‚klingt seltsam‘ oder ‚klingt auch nicht besser‘, gebe ich meine Intuitionen wieder. Es wäre sinnvoll, diese Intuitionen in sauber designten experimentellen Studien zu überprüfen. Beispielsweise wäre es möglich zu testen, ob Sprecher*innen länger brauchen um den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen zu lesen als den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen. Oder braucht ein Leser/ eine Leserin länger, wenn er/sie Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen im Vergleich zu Die Richterin kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen liest? Alternativ könnte der menstruiende Richter mit der urinierende Richter verglichen werden. Meine Intuition ist, dass der menstruierende Richter arg seltsam klingt. Seltsam zu klingen bedeutet nicht ungrammatisch zu sein. Aber wenn etwas seltsam klingt, dann ist dies doch ein Indiz dafür, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht als ‚normal‘ bewertet wird. Wichtig ist, dass wir auf diese Weise eine Hypothese aufstellen können, die sich experimentell überprüfen lässt. Gibt es das generische Maskulinum, sollte sich kein Unterschied zwischen den Sätzen ergeben. Wenn es doch kein generisches Maskulinum ist, wäre ein Unterschied zu erwarten (Die Sätze mit der Richter … er … sein Baby stillen sollten mehr Zeit beim Lesen (= Verarbeiten) brauchen als die Vergleichssätze).
Bisher ging es nur um die Singularform Richter. Was ist aber mit dem Plural? Die Richter kamen zu spät, sie mussten erst noch ihre Babies stillen? Oder Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger. Sind die Pluralsätze besser als die Singularsätze? Bezieht die Pluralform Frauen mit ein?
Vorweg: im Plural gibt es im Deutschen keine Genusunterscheidung mehr. Genus erkennen wir im Deutschen nur an der Form des Artikels bzw. Adjektivs, der/das ein Nomen modifiziert (Sprachwissenschaftler*innen sprechen von Kongruenz). Im Plural verlangen alle Nomen, egal welchem Genus sie im Singular angehören, dieselbe Form des Adjektivs/Artikels. Also der Richter, die Richterin, das Kind – aber die Richter, die Richterinnen, die Kinder.
Wäre die Pluralform generisch – könnte also für alle Geschlechter verwendet werden – , müsste von einem ‚generischen Plural‘ und nicht von einem ‚generischen Maskulinum‘ gesprochen werden. Ich bin mir bezüglich des Plurals nicht sicher. Die Pluralform scheint besser zu sein, aber ganz eindeutig ist mein Urteil nicht. Aber das ist auch egal, denn mittels experimenteller Methoden kann man dem auf den Grund gehen. Wie für die Singularbeispiele kann man also auch für die Pluralbeispiele vergleichen, ob Leser*innen für das Lesen eines Satzes wie Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger länger/kürzer/gleich lang brauchen wir für den Satz Am Landgericht sind drei Richter*innen beurlaubt, alle drei sind schwanger.
Solche Experimente werden natürlich so durchgeführt, dass die Versuchspersonen nicht wissen, worum es geht. Zudem sollte die Gruppe der Versuchspersonen zu zusammengesetzt sein, dass sie möglichst heterogen ist – zum Beispiel nicht nur Genderideologen aus dem Verein für deutsche Sprache. Natürlich wäre es auch interessant zu wissen, ob die Einstellung der Versuchsperson zum Thema Gendern eine Auswirkung auf die Versuchsergebnisse hat. Dies kann man auch abtesten und auswerten.
Das generische Maskulinum ist keine Glaubenssache, sondern kann experimentell untersucht werden. Intuitionen legen die Hypothese nahe, dass die Singularform – die maskuline Form – eine (starke) Assoziation mit männlichen Personen aufweist.
Die Diskussion des generischen Maskulinums ist erst einmal unabhängig vom Thema Gendern. Bei der Frage nach dem generischen Maskulinum geht es darum, welche Form von Personenreferenz – also Bezugnahme auf Menschen – durch ein Nomen mit maskulinem Genus erfolgt. Beim Gendern geht es um die Sichtbarmachung von Personen unterschiedlichen Geschlechts (was auch noch einmal unabhängig davon ist, ob eine binäre oder nicht-binäre Geschlechtsunterscheidung angenommen wird). Aus der Beobachtung, dass maskuline Nomen, die auf Menschen referieren, nicht unbedingt Frauen mitmeinen, kann man leicht zu der Idee übergehen, dass Gendern sinnvoll ist. Denn durch Gendern – zumindest eine Beidnennung wie Richterin und Richter – wird deutlich, dass Frauen mitgemeint sind. Dieser Schluss muss aber nicht zwingend gezogen werden. Wichtig in der Genderdiskussion ist aber, dass die einzelnen Themenkomplexe, die in der Debatte vermengt werden, auseinandergehalten werden.
Die Frage, ob es ein generisches Maskulinum gibt, ist eine linguistische. Ob Mensch gendern sollte, ist dagegen eine nicht genuin linguistische Fragestellung, sondern hat mit Sprechereinstellungen zu tun. Dabei geht es nicht nur um Einstellung der Sprecher zur Sprache, sondern auch zu außersprachlichen Faktoren. Beide Fragestellungen müssen daher auch mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden.
1. Nachtrag: Ein/e Twitteruser/in hat bemängelt, dass der Text keine Quellenangaben enthalten würde. Bei meiner Sprachintuition bin ich die Quelle. Die Intuition erscheint mir aber einigermaßen robust – zumindest was die Singularformen angeht – , da ich in mehrere Seminaren Studierende zu diesen Formen befragen konnte. Zum Genus gibt es zahlreiche gute wissenschaftliche Arbeiten, die das Thema umfassend beleuchten. G. Corbett’s Buch Gender (erschienen bei Cambridge University Press) führt in das Thema ‚Genus‘ sehr umfassend ein und zeigt auch gut auf, wie man Genusklassen über Kongruenzmuster feststellen kann. Auch der Aspekt der Genusneutralisation im Plural findet sich dort. Überhaupt ist dies Thema in zahleichen Arbeiten zum deutschen Genus. Wer eine explizite Referenz möchte: aus dem Jahr 2008 D. Nübling Was tun mit Flexionsklassen? erschienen in Zeitschrift für Dialektologie & Linguistik Band 75, Heft 3. Zur Frage, wie Genus und Sexus zusammenhängen, gibt es auch sehr gute Arbeiten, die die Forschungsliteratur zusammenfassen. Von D. Nübling & H. Kotthoff gibt es z.B. den Band Genderlinguistik, der bei Narr erschienen ist. Da fehlt dann natürlich auch das Thema ‚generisches Maskulinum‘ nicht.
Zusätzlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu der Frage, ob beim ‚generischen Maskulinum‘ Frauen mitgemeint sind. Ein Klassiker stellt L. Puschs Buch Das Deutsche als Männersprache dar. Aber auch experimentell wurde einiges gemacht. Hier nur ein paar Titel:
Heise, E.. 2000. Sind Frauen mitgemeint? Eine empirische Untersuchung zum Verständnis des generischen Maskulinums und seiner Alternativen. Sprache & Kognition 19 (1-2): 3-13.
Irmen, L., & Köncke, A. 1996. Zur Psychologie des „generischen“Maskulinums . Sprache & Kognition, 15( 3): 152–166.
Braun, F., Gottburgsen, A., Sczesny, S. & Stahlberg, D. 1998. Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26 (3): 265-283.
Braun, F., Sczesny, S., Stahlberg, D. 2002. Das generische Maskulinum und die Alternativen: Empirische Studien zur Wirkung generischer Personenbezeichnungen im Deutschen. Germanistische Linguistik 167-168: 77-87.
2. Nachtrag (10.02.2023): Ich habe oben die Frage aufgeworfen, ob eine Pluralform, die von einem maskulinen Nomen gebildet ist, eine wenige starke Assoziation mit männlichen Referenten aufweist als das ‚generische Maskulinum‘. Eine Studie von Gygax et al. (2008) legt nahe, dass das nicht so ist. Probanden bekamen Sätze der Art Die Sozialarbeiter liegen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Männer/Frauen keine Jacke. Die Aufgabe war zu entscheiden, ob der zweite Satz eine mögliche Fortsetzung des ersten Satzes darstellt. Dabei wurde die Reaktionszeit der Versuchsteilnehmer gemessen. Die Reaktionszeiten waren schneller, wenn in dem zweiten Satz Männer genannt wurde. Die Autoren schließen daraus, dass das Genus der (zugrundeliegenden) Singularform eine Sexusassoziation des Plurals bewirkt.
Gygax, P., Gabriel, U., Sarrasin, O., Oakhill, J. & Garnham, A. 2008. Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men. Language and Cognitive Processes 23 (3): 464-485.