Archiv für den Monat: April 2024

Generisches Maskulinum: Was ist das? – Teil 2

Wie kann ‚Schüler‘ auch ‚männlicher Schüler‘ bedeuten?

In letzter Zeit habe ich viele Diskussionen mit „Genderkritikern“ – also Menschen, die die Verwendung geschlechtergerechte Sprache ablehnen – geführt. Gerne wurden mit dann mehr oder weniger linguistische Argumente um die Ohren gehauen, die sich meistens wiederholten.

Das erste Argument, das ich in der Regel zu hören bekam, war: Aber maskuline Formen sind generisch. Dahinter steckt die Annahme eines ‚generischen Maskulinums‘. Damit habe ich mich an anderer Stelle ausführlich auseinandergesetzt. Jedenfalls ist die Idee, dass Schüler nicht ‚männlicher Schüler‘ bedeute. Vielmehr sei es eine geschlechtsneutrale Form – ‚generisch‘ –, die auf Personen jeglichen Geschlechts Bezug nehmen könne.  

Dem muss nicht widersprochen werden, denn in seiner Ausdrucksbedeutung ist Schüler nicht auf ein spezifisches Geschlecht seines Referenten – desjenigen, auf den es sich in der Welt bezieht – beschränkt. Auf Ebene der Äußerungsbedeutung – was bedeutet das Wort als Bestandteil einer konkreten Äußerung? – ist dies aber anders. Dann kann Schüler durchaus als ‚männlicher Schüler‘ interpretiert werden.

Oftmals habe ich zu hören bekommen, dass Schüler gar nicht ‚männlicher Schüler‘ bedeuten kann, denn sonst könnte mensch ja nicht sinnvoll eine Form wie Schülerin bilden. Schülerin bedeutet ganz klar ‚weiblicher Schüler‘. Würde Schüler ‚männlicher Schüler‘ bedeuten, so die Argumentation, dann müsste Schülerin somit ‚weiblicher männlicher Schüler‘ bedeuten. Klar, das tut es nicht. Aber die ganze Geschichte ist dann doch noch ein wenig genauer zu beschreiben.

Schüler ist ein konzeptuell unterspezifiziertes Nomen, es bedeutet – vereinfacht – ‚Person, die Schüler ist’‘‘. Das Nomen selbst legt nicht fest, wie oben schon ausgeführt, ob der Referent männlich, weiblich oder divers ist. Soweit stimmt dies mit der Story der Genderkritiker überein. Nun aber das große ABER: ein Schüler ist eine Person und wir haben als kompetente Sprachnutzer Wissen über Personen. Laut dem Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache ist eine Person u.a. ein ‚menschliches Wesen‘. Über Menschen wissen wir eine ganze Menge, zum Beispiel, dass sie eine bestimmte Größe, ein Gewicht, eine Augenfarbe, einen bestimmten Körperaufbau und so weiter haben. Wir wissen aber auch, dass Menschen ein Geschlecht haben. Können wir uns einen Menschen ohne Geschlecht denken? Also einen Menschen, der keinem der Geschlechter angehört? Vielleicht ja, aber das ist eine ungeheure Abstraktion. Damit ist auch klar, dass es solche Menschen jenseits aller Geschlechtskategorien nicht gibt. Reden wir über Menschen, dann reden wir über konkrete Personen und konkrete Personen haben ein Geschlecht.

In einem spezifischen Äußerungskontext muss ein Nomen interpretiert werden. Wird ein Nomen referentiell gebraucht – also so, dass es auf etwas in der Welt verweist –, dann nehmen wir an, dass es einen Referenten gibt. Damit inferieren wir ein Geschlecht. In einer konkreten Verwendung wird Schüler wird damit geschlechtsspezifisch interpretiert. Wir können annehmen, dass der Eigenschaft ‚Geschlecht‘ ein Wert zugewiesen wird. Wenn es keine sprachlichen Indikatoren (z.B. das Suffix -in oder ein Adjektiv wie männlich) gibt, müssen wir das Geschlecht erschließen. Dazu habe ich mehr an anderer Stelle geschrieben.

Es ist also möglich, dass das Nomen Schüler in seiner Ausdrucksbedeutung nicht auf ein Geschlecht festgelegt ist, aber dennoch als ‚männlicher Schüler‘ interpretiert werden kann. Und dabei entstehen nicht einmal Probleme für die Wortbildung, sodass Schülerin in diesem Modell nicht ‚weiblicher männlicher Schüler‘ bedeutet (und auch nicht bedeuten kann).

Gibt es denn nun gar keine geschlechtsunspezifischen Verwendungen? Am ehesten kommt einer geschlechtsunspezifischen Verwendung eine generische Verwendung nahe. In einer generischen Verwendung referiert ein Nomen nicht auf konkrete Individuen, sondern bezeichnet eine Klasse. Wir sehen den Unterschied zwischen Der Schüler kam heute wieder zu spät [ein konkreter, im Kontext spezifizierter Schüler] und Ein Schüler braucht immer ein gutes Frühstück. Im zweiten Satz geht es nicht um einen konkreten Schüler. Hier haben wir eine generische Verwendung, die wir aber auch mit der Form Schülerin hinbekommen (Eine Schülerin braucht immer ein gutes Frühstück). In einer generischen Verwendung bezieht sich Schülerin zwar nur auf die Klasse der Schülerinnen, aber das ist irrelevant.

Unter ‚generisch‘ ist also eine spezifische Verwendung von Nomen zu verstehen. Die meisten – vielleicht alle? – Nomen können generisch gebraucht werden. Das hat nichts mit ihrem Genus zu tun. Und viele Nomen können konzeptuell unterspezifiziert sein. Die Unterspezifikation muss nicht immer das Geschlecht betreffen, aber in einigen Fällen tritt dies auch bei Feminina auf, etwa die berühmte Leiche, die ja nicht immer weiblich sein muss. Auch damit haben die Genderkritiker Recht, denn das Nomen Leiche ist auch konzeptuell unterspezifiziert bezüglich des Geschlechts. Aber, wie Schüler,verlangt das Nomen eine Auflösung der Unterspezifikation, wenn es in einem konkreten referentiellen Äußerungskontext verwendet wird.

Für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache spricht also nicht, dass Nomen wie Schüler sich nur auf männliche Referenten beziehen würden. Es liegt also keine semantische Motivation vor. Für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache spricht, dass in ausreichend vielen Fällen maskuline Nomen (mit menschlichen Referenten) als ‚männlich‘ interpretiert werden. Die Motivation ist also, linguistisch gesprochen, auf der Ebene der Pragmatik – also der Sprachverwendung – angesiedelt. Dementsprechend gäbe es eine Alternative zur Verwendung geschlechtergerechter Sprache: gäbe es keinen Anlass maskuline Formen als tendenziell männlich zu interpretieren, dann wären sie in ihrer Verwendung auch eher als geschlechtsneutral zu verstehen. Das hieße aber, dass die Geschlechterstereotype, die wir in unseren Köpfen haben (und die ein Spiegel der Gesellschaft sind), verschwinden oder durch neue ersetzt werden müssten. Geschlechtergerechte Sprache könnte ein Weg sein, diese Geschlechterstereotype, die die Interpretation von Äußerungen beeinflussen, zu verändern. Aber wichtig ist auch, dass es einen entsprechenden gesellschaftlichen Wandel gibt. Geschlechtergerechte Sprache kann ein Anstoß für den nötigen gesellschaftlichen Wandel bieten und sollte deshalb nicht regulativen staatlichen Eingriffen und ideologisch motivierten Attacken von rechts unterlegen sein.       

Generisches Maskulinum: Was ist das?

Konzeptuelle Unterspezifikation und Äußerungsbedeutung

Wenn mensch in die (sozialen) Medien schaut, dann scheint das wichtigste sprachpolitische Thema zu sein, ob geschlechtergerechte Sprache (das sogenannte ‚Gendern‘) verboten werden sollte oder nicht. Einzelne Bundesländer verbieten in bestimmten öffentlichen Bereichen die Verwendung geschlechtergerechter Sprache, Petitionen gegen ihre Verwendung werden gestartet, rechte Gruppen und Sprachvereine kritisieren lautstark und medienwirksam alle Formen der Verwendung geschlechtergerechten Sprache. Ein Argument ist in der Regel, dass wir geschlechtergerechte Sprache gar nicht brauchen würden, denn sie würde Sprache unnötig sexualisieren. Immerhin gäbe es doch das ‚generische Maskulinum‘, das alle Geschlechter mit meint.

Auf der Intersetseite des Verein für deutsche Sprache heißt es beispielsweise: “ „Der ‚Engel‘ ist per Definition geschlechtslos, ein ‚Schelm‘ kann genauso eine Frau sein wie eine ‚Dumpfbacke‘ ein Mann“, erklärt Krämer, „die vom Duden betriebene Zwangs-Sexualisierung der deutschen Sprache widerspricht den Regeln der Grammatik sowie dem allgemeinen Sprachgebrauch.“ Engel und Schelm werden als Beispiele für sogenannte generische Maskulina angeführt. Aber was steckt eigentlich hinter diesem Begriff?

In der öffentlichen Diskussion wird der Begriff ‚generisches Maskulinum‘ gerne verwendet, aber häufig mit fehlender sprachwissenschaftlicher Präzision. Um aber entscheiden zu können, aber die Argumente bezüglich des ‚generischen Maskulinums‘ sprachwissenschaftlich haltbar sind oder nicht, muss dieser Begriff auch auf ein solides wissenschaftliches Fundament gestellt werden. Oft genug habe ich es in Diskussionen mit ‚Genderkritikern‘ erlebt, dass einerseits den Verfechter*innen der Verwendung geschlechtergerechter Sprache falsche Unterstellungen bzgl. des maskuliner Nomen gemacht werden („Ihr sagt, dass das Nomen Richter sich nur auf Männer beziehen kann“), anderseits treffen die Argumente, die zur Verteidigung eines ‚generischen Maskulinums‘ vorgebracht werden, oftmals das Thema nicht. Also: was ist denn das vermeintliche ‚generische Maskulinum‘ und was ist das damit verbundene Problem?

Unter einem ‚generischen Maskulinum‘ werden Nomen, die grammatikalisch maskulin sind (d.h., dem Genus ‚Maskulin‘ angehören) und ‚generisch‘ – also ganz generell – referieren, verstanden. Ein Beispiel ist Der Richter betrat den Raum. Das Nomen Richter ist maskulin. Das Genus eines Nomens erkennen wir im Deutschen nur in seinem grammatikalischen Verhalten. Relevant ist die sogenannte Kongruenz. Wenn wir die Nomen Richter, Katze, Fahrzeug vergleichen, dann sehen wir, dass sie unterschiedliche Endungen beim definiten Artikel (d-er Richter, d-ie Katze, d-as Fahrzeug) verlangen. Ebenso aber auch beim indefiniten Artikel und beim Adjektiv (ein groß-er Richter, ein-e groß-e Katze, ein groß-es Fahrzeug).

Genus ist eine grammatikalische Klassifikation von Nomen und eine Streitfrage ist, ob das Genus vom Sexus des nominalen Referenten abhängt. Mit ‚maskulin‘ ‚’feminin‘, ’neutrum’‘‘ beziehen wir uns auf unterschiedliche Werte einer grammatikalischen Kategorie. ‚Männlich‘ und ‚weiblich’‘‘ – wenn wir einfach einmal binär verbleiben – repräsentieren Werte der Kategorie Sexus. Das Sexus ist keine Eigenschaft des Nomens – anders als Genus –, sondern eine Eigenschaft des Referenten des Nomens. Der Referent ist der oder das, worauf sich das Nomen in der Welt bezieht. Nicht alle Dinge in der Welt haben ein Sexus. Ein Tisch ist weder männlich noch weiblich, ebenso eine Tasse. Entsprechend ist klar, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem nicht-vorhandenen Sexus der Referenten von Tisch und Tasse und dem Genus der Nomen geben kann. Sexus spielt nur für einen Teilbereich der Nomen eine Rolle und zwar für die Nomen, deren Referenten belebt sind. Aber auch da spielen nicht alle Nomen eine Rolle, denn das Geschlecht vieler Tiere ist und (sprachlich) vollkommen egal. Relevant ist der Teilbereich derjenigen Nomen, die sich auf Menschen, höhere Säugetiere und Nutztiere bezieht.

Richter ist nun ein Nomen, das menschliche Referenten hat. Die Annahme eines ‚generischen Maskulinums‘ sagt nun aus, dass Der Richter betritt den Raum bedeuten kann, dass auch ein weiblicher Richter den Raum betritt. Dem muss man nicht widersprechen. Die Frage ist nicht, was das Nomen Richter bedeutet, sondern wie es im Kontext verstanden wird.

In der Semantik, dem Teilbereich der Sprachwissenschaft, der sich mit Bedeutung auseinandersetzt, sagt man, dass das Nomen Richter ‚konzeptuell unterspezifiziert‘ ist. Es bedeutet: ‚eine Person, die den Richterberuf ausübt‘. Das ist soweit damit kompatibel, dass der Satz Der Richter betrat den Raum bedeuten kann, dass ein männlicher Richter oder eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Richterin ist dagegen ein Nomen mit einer spezifischeren Referenz, denn es bedeutet: ‚weibliche Person, die den Richterberuf ausübt‘. Damit referiert Richterin nur auf Frauen und der Satz Die Richterin betrat den Raum kann auch nur bedeuten, dass eine weibliche Richterin den Raum betrat.

Dadurch, dass Richter konzeptuell unterspezifiziert ist – dieser Begriff ist gegenüber ‚generisch‘ zu bevorzugen, da adäquater – muss im Kontext interpretiert werden, wer der Referent von Richter sein kann. Wenn wir in einem Gerichtsaal sitzen und eine Person in schwarzer Robe durch die neben dem Richtertisch befindliche Tür den Raum betritt, dann ist klar, auf wen sich Richter bezieht: auf die Person, die gerade den Raum betrat. Wir besitzen in diesem Fall visuelle Evidenz, die es uns erlaubt, die Referenz des Nomens eindeutig zu bestimmten und damit die konzeptuelle Unterspezifikation aufzulösen. ‚Konzeptuelle Unterspezifikation‘ bedeutet also, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht vollkommen spezifiziert ist. Im Fall von Richter gibt es keine in der Bedeutung des Nomens verankerte Geschlechtsspezifikation. Anders, wie gesagt, bei Richterin, da das -in das Geschlecht des Referenten eindeutig auf ‚weiblich‘ festlegt.

Was machen wir aber, wenn wir keine solchen Hinweise haben? Wenn wir in der Zeitung beispielsweise lesen Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt? Der Satz kann bedeuten ‚drei Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Dies wäre die Lesart, die in der Diskussion gerne als ‚generisch‘ bezeichnet wird. Es kann aber auch bedeuten ‚drei männliche Personen, die den Richterberuf ausführen, wurden der Bestechung angeklagt‘. Die Interpretation, dass es sich um drei weibliche Personen handelt, ist auch möglich. Da wir aber eine spezifische Form haben, die die Referenz auf weibliche Personen erlaubt, ist dies zwar möglich, aber die sprachlich nicht präferierte Form.  

Der Streit um das sogenannte ‚generische Maskulinum‘ zielt auf die Interpretation von Nomen wie Richter ab und nicht auf ihre Bedeutung. Diejenigen, die sich für die Verwendung geschlechtergerechter Sprache einsetzen, sagen, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tendenziell als ‚drei männliche Richter‘ interpretiert wird. Diejenigen, die sich für die Verwendung des ‚generischen Maskulinums‘ und die Ablehnung geschlechtergerechter Sprache aussprechen, argumentieren, dass Drei Richter wurden der Bestechung angeklagt tatsächlich ‚drei bezüglich ihres Geschlechts nicht näher spezifizierte Richter‘ bedeutet. Es geht also darum, wie Menschen einen solchen Satz interpretieren. Damit bewegen wir uns nicht auf der Ebene der Wortbedeutung, sondern auf der Ebene der Interpretation eines Nomens im Satzkontext.  

Die Interpretation ist durch verschiedene Faktoren beeinflusst, unter anderem durch den sprachlichen Kontext (welche anderen sprachlichen Formen werden noch verwendet), aber auch durch unser Weltwissen. Zum Weltwissen gehören bestimmte Erfahrungen, die wir gemacht haben. Wenn ich die Erfahrung habe, dass nur Männer Fußball spielen, dann interpretiere ich Der Fußballer brach sich ein Mann eher als ‚der männlicher Fußballer‘. Eine geschlechtsunspezifische Interpretation ist dann wenig naheliegend (obwohl möglich). Aber auch Geschlechterstereotype spielen bei der Interpretation eine Rolle. Es gibt gesellschaftlich kolportierte Geschlechtervorurteile, etwa ‚Männer sind mutig und Frauen hübsch‘. Solche Adjektive können zum Beispiel einen Einfluss auf die Interpretation haben. Wer mag sich wohl – und warum – eher von den folgenden fiktiven Stellenausschreibungen angesprochen fühlen? Welche Personen würden Sie hinter den bezeichneten Stellen eher erwarten: Männer, Frauen, egal?Suchen einen mutigen Mitarbeiter für die Nachtschicht‘ versus Suchen hübschen Mitarbeiter für die Nachtschicht.

Aber auch Grammatik wirkt sich auf die Interpretation auf. Nomen, deren Referenten männlich sind, sind tendenziell Maskulina. Ausnahmen sind in diesem Bereich kaum vorhanden. Nomen, deren Referenten weiblich sind, tendieren dazu Feminina zu sein. Das bekannte Gegenbeispiel Mädchen ist gut erklärbar, denn Diminutiva (Nomen, die mit -chen oder -lein enden) sind immer Neutra (das Richterlein, das Männchen). Trotzdem können wir beobachten, dass auch Mädchen als feminines Nomen behandelt wird. Wenn wir einen Satz wie Ein Mädchen klingelte an der Tür haben, dann können wir als Pronomen sowohl es (Es hatte lange Haare)oder sie (Sie hatte lange Haare) verwenden.Die Verwendung von es ist grammatikalisch motiviert, die von sie semantisch (der Referent ist weiblich).

Da wir eine Tendenz sehen, dass männliche Referenten durch maskuline Nomen bezeichnet werden, nutzen wir dies auch beim Interpretieren: Der Nomen ist maskulin, also dürfte der Referent männlich sein. Interpretieren ist ein Prozess, der der Hörerende vornimmt. Basierend auf dem, was der Sprechende von sich gibt, stellt der Hörende bestimmte Schlussfolgerungen an. Zum Beispiel: Was bedeutet denn das konzeptuell unterspezifizierte Nomen Richter in dieser konkreten Äußerung? Der Hörende nimmt die Evidenz, die er hat, ergänzt sie durch das vorhandene Weltwissen und stellt dann eine Schlussfolgerung an. Da das Weltwissen zwischen Personen variieren kann, können diese auch zu unterschiedlichen Interpretationen kommen. Will ein Sprechender den Hörerenden möglichst gut anleiten, sodass keine Fehlinterpretation zustande kommt, dann sollte eine möglichst präzise Formulierung verwendet werden. Die konzeptuelle Unterspezifikation sollte vom Sprechenden bereits aufgelöst sein. Unterspezifikation lädt zur Interpretation ein.

Wenn es um die Verwendung des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘ geht, dann geht es also nicht darum, was ein Nomen an sich bedeutet, sondern wie ein Nomen in einem spezifischen Äußerungskontext von einem bestimmten Hörenden interpretiert wird. Die Forschung hat in verschiedenen Studien herausgearbeitet, welche Faktoren auf die Interpretation einwirken, aber auch, dass die Interpretation nicht generell geschlechtsunspezifisch bei ‚generischen Maskulina‘ ist. Sie lassen sich zwar generisch interpretieren, müssen es aber nicht. Und da liegt das zentrale Problem: Für einige Menschen ist geschlechtsspezifische Interpretation in verschiedenen Kontexten dominierend und dies führt zu Konsequenzen. Passiert dies im Bereich der Berufsbezeichnungen, dann können dadurch bestimmte Stereotype ausgebildet, bzw. verstärkt (Richter sind immer männlich) und zugleich Frauen von der Bewerbung auf bestimmte Stellen abgehalten werden.

Die Semantik kennt eine Unterscheidung zwischen der lexikalischen Bedeutung eines Ausdrucks (‚Ausdrucksbedeutung‘) und seiner Äußerungsbedeutung. Während Richter als lexikalische Bedeutung etwa ‚Person (unspezifischen Geschlechts), die den Richterberuf ausübt‘ hat, stellt die Äußerungsbedeutung die konkrete Interpretation im sprachlichen Kontext dar. Die Diskussion um das ‚generische Maskulinum‘ betrifft die Äußerungsbedeutung maskuliner Nomen (mit belebten Referenten) und nicht ihre lexikalische Bedeutung. Den Streit um das ‚generische Maskulinum‘ lösen wir nicht, indem wir uns über Regeln der Genuszuweisung, die historische Grundlage des Genussystems oder die Bedeutung von Wortbildungsmorphemen streiten, sondern in dem wir die Interpretation von Sprache in konkreten Äußerungskontexten untersuchen. Es geht also darum zu untersuchen, ob es Muster in der subjektiven Interpretation von Nomen in Äußerungskontexten gibt. Wenn ja, welche Interpretation? Und zugleich kann die Frage gestellt werden, ob es irgendwelche weiteren Merkmale (zum Beispiel Geschlecht der interpretierenden Person, Alter, Bildungsstand, Ausdrücke im sprachlichen Kontext) Einfluss auf die Interpretation haben.

Somit ist nun auch klar, wie das vermeintlich ‚generische Maskulinum‘ untersucht werden sollte: experimentell. Wir müssen schauen, wie Menschen in konkreten Äußerungen interpretieren. Aussagen wie ‚Richter ist generisch, denn das Nomen kann sich ja auf Frauen beziehen‘ sind nicht per se falsch, tragen aber nichts zur eigentlichen Diskussion – der Interpretation des Nomens in konkreten Äußerungskontexten – bei. Damit ist auch klar, welche Argumentationen bezüglich des vermeintlich ‚generischen Maskulinums‘ am eigentlichen Thema vorbeigehen und daher in der Debatte um die Verwendung geschlechtergerechte Sprache kein größeres Gewicht bekommen sollten. Im öffentlichen Diskurs finden sich viele lautstarke Gegner*innen geschlechtergerechter Sprache, deren Argumente den Kern der Sache – die Äußerungsbedeutung von Nomen – nicht trifft. Daher ist es umso wichtiger, dass die linguistischen Grundlagen rund um diese Debatte verstanden sind, damit jede*r in der Lage ist die Qualität der jeweils vorgebrachten Argumentationen einschätzen zu können. Nur auf dieser Grundlage können solide wissenschaftliche Argumentationen von ideologischen Argumentationen unterschieden werden. 

Anmerkung: Dieser Beitrag enthält keine Verweise auf relevante Fachliteratur, gerne kann ich Referenzen zur Verfügung stellen. Bei Interesse einfach eine Email schreiben oder einen Kommentar hinterlassen. Einige Literaturverweise möchte ich an dieser Stelle aber doch (nach und nach) angeben:

Bezüglich des Themas ‚konzeptuelle Unterspezifikation‘ finde ich den Aufsatz Sense Individuation von Dirk Geeraets hilfreich (Geeraets, Dirk. 2015. Sense Individuation. In Nick Riemer (Hrsg.). The Routledge Handbook of Semantics, S. 233-247. Milton Parc: Routledge. )