Spricht die Welt von morgen ohne Grammatik?
Mit dem Begriff ‚Grammatik‘ können – vielleicht etwas vereinfacht gesprochen – alle Regeln, die die korrekte Verwendung einer Sprache betreffen, bezeichnet werden. Dazu gehören Regeln, wie Laute miteinander kombiniert werden können, wie Wörter aufgebaut sind, wie Wörter zu Sätzen zusammengefügt sind und wie Sätze miteinander verknüpft werden können. Im Detail gibt es viele weitere Aspekte, die an dieser Stelle aber nicht wichtig sind.
Wenn ‚Grammatik‘ also die Regeln zur korrekten Verwendung einer Sprache bezeichnet, wie sähe dann eine Sprache ohne Grammatik aus? In einer solchen Sprache wäre entweder alles korrekt – zum Beispiel wäre jede Lautkombination möglich – oder, das erscheint mir plausibler, wir könnten gar nicht beurteilen, ob in dieser Sprache etwas korrekt oder nicht korrekt ist.
Es gibt keine Sprache in der anything goes gilt, also gibt es auch keine Sprache ohne Grammatik. Laienlinguistisch wird dies aber gerne behauptet. „Mein Dialekt hat keine Grammatik“, hat der Vater eines Freundes einmal gesagt. Was er damit meinte war, dass die Varietät, die er spricht – Oberschlesisch – keine kodifizierte Grammatik (also eine aufgeschriebene Grammatik) hat. Fehlt ein solches Buch, werden Varietäten manchmal irgendwie als defektiv oder minderwertig gegenüber verschriftlichen, kodifizierten Sprachen erachtet. Manchmal höre ich auch, dass eine Sprache keine Grammatik aufweist, weil bestimmte Eigenschaften, die das Deutsche aufweist, fehlen. Mein alter Englischlehrer behauptete einmal, dass Englisch keine Grammatik besitze, da die Nomen kein Genus aufweisen und somit Adjektive und Artikel ihre Form nicht an das Bezugsnomen anpassen (ein großer Hund – eine große Katze vs. a big dog – a big cat). Grammatik wird dann mit bestimmten Formeigenschaften, hier dem Vorhandensein der Kategorie Genus und Kongruenz zwischen Nomen und abhängigen Elementen, assoziiert.
Beide Argumente sind natürlich Unsinn. Eine Sprache weist auch dann eine Grammatik auf, wenn niemand sie bisher aufgeschrieben hat. Ebenso erschöpft sich Grammatik nicht in bestimmten formalen Eigenschaften, zum Beispiel Genus. Dies greift tatsächlich nur einen Teilbereich der Grammatik – hier die Nomenmorphologie – auf.
Auch wenn solche Sichtweisen unter Laienlinguisten verbreitet zu sein scheinen – ich habe keine quantitativen Daten –, sind sie falsch und können, wenn mensch mit Fachwissenschafter*innen spricht, schnell als falsch entlarvt werden.
Jean-Marie Magro hätte dies auch für seinen Podcast ‚Wie spricht die Welt von morgen?‚ der Reihe ‚IQ – Wissenschaft und Forschung‘ des Bayerischen Rundfunks tun können. In diesem Podcast kommen durchaus Expert*innen vor, es wurde also tatsächlich linguistische Expertise eingeholt. Nur zum Chinesischen nicht. Dort spricht jemand über Chinesisch, der die Sprache zwar gelernt hat, aber offensichtlich nicht als Experte für die Sprache gelten kann. Deutlich wird auch hier wieder das Vorurteil, Chinesisch habe keine Grammatik, wiederholt. Das ist ziemlicher Unsinn und sollte in einem Podcast, der sich als Wissenschaftspodcast versteht, nicht vorkommen. Um es einmal klar zu formulieren: Nur weil jemand eine Sprache erlernt hat, ist er oder sie kein Experte für die Sprache. Das kompetente Sprechen einer Sprache setzt den (impliziten) Regelerwerb voraus. Fachwissenschaftler*innen reflektieren zusätzlich über Sprache(n) und arbeiten Strukturelemente – also Grammatik – heraus. Zum Chinesischen – im Podcast wird korrekt gesagt, dass es eigentlich Mandarin ist – gibt es zahlreiche Expert*innen und viele umfassende Grammatikbücher. Alleine die Existenz solcher Bücher sollte schon die Aussage, dass das Chinesische (oder Mandarin) keine Grammatik besitze, zweifelhaft erscheinen.
Zwar besitzt Mandarin, genau wie das Englische, kein nominales Genussystem, aber was soll‘s. Tatsächlich wird dieses Argument auch im Podcast genannt und da fühlte ich mich wieder an meinen alten Englischlehrer erinnert, der ein toller Sprachlehrer, aber kein Sprachwissenschaftler war. Mandarin hat dagegen andere Strukturen, die wir im Deutschen so nicht kennen. Mehr oder weniger obligatorisch müssen Zahlwörter mit sogenannten Klassifikatoren kombiniert werden. Die Wahl des Klassifikators ist dabei von dem jeweiligen Nomen, mit dem das Zahlwort verbunden werden soll, abhängig. Im Deutschen können wir Zahlwörter direkt mit Nomen verbinden (drei Bücher). Heißt dies nun, dass Deutsch aus Perspektive der Mandarinsprecher keine Grammatik aufweist? Ein solches Argument käme uns sicherlich sehr absurd vor und entsprechend absurd sollte es uns erscheinen, wenn wir dem Mandarin eine Grammatik absprechen wollen, nur weil ihm eine Eigenschaft, die das Deutsche aufweist, fehlt.
Ich finde es toll, wenn sich Wissenschaftspodcasts mit sprachwissenschaftlichen Themen beschäftigen. Ich fände es aber noch toller, wenn das (durchgängig) auf wissenschaftlichem Niveau erfolgen würde.
Nachtrag: Die Behauptung, dass eine Sprache keine Grammatik besitze, kann leicht zur Diskreditierung einer Sprache gebraucht werden. „Das ist ja keine richtige Sprache, die hat ja nicht einmal eine Grammatik“. Von Laien sind solche Äußerungen gelegentlich durchaus zu hören. Umso wichtiger ist es, dass keine Falschbehauptungen als vermeintlich wissenschaftliche Position verbreitet werden.