Heinrich Heine, guillotinieren und die moderne Sprachwissenschaft

Heinrich Heines (ungewollter) Beitrag zur Verbsemantik

Was hat Heinrich Heine – Namenspatron der Düsseldorfer Universität – mit moderner Sprachwissenschaft zu tun? Auf den ersten Blick nicht viel. Trotzdem kann man Heine, bzw. sein ‚Wintermärchen‘, elegant in aktuelle Debatten im Bereich der Verbsemantik einbringen.

Als ich vor rund zehn Jahren – also 2013 – meiner späteren Vermieterin sagte, dass ich Sprachwissenschaftler sei und mich mit Verbsemantik beschäftigen würde, entgegnete sie: „Prima, dann können Sie mir sagen, ob ich die Verben in meinen Gedichten richtig verwende“. Die gute Dame las mir dann noch über eine Stunde selbstgeschriebene, holprige Gedichte vor, aber ich musste glücklicherweise als Sprachwissenschaftler keine Stellung zur richtigen Verbverwendung beziehen. Auch wenn ich die Äußerung der Dame im ersten Moment etwas absurd fand, so muss ich doch zugestehen, dass dies eine Fragestellung ist, der Sprachwissenschaftler*innen durchaus nachgehen. Die Bedeutung eines sprachlichen Ausdrucks kann durch die Verwendungskontexte, in denen dieser Ausdruck vorkommen kann, bestimmt werden.

In welchen Verwendungskontexten kann zum Beispiel das Verb töten vorkommen? Ist es möglich zu sagen: ‚Lee Harvey Oswald tötete Kennedy, Kennedy ist aber nicht tot‘? Wenn es in beiden Fällen derselbe Kennedy ist, dann funktioniert dies nicht gut. Das Verb töten impliziert, dass die Person, auf die sich das Objektargument bezieht, am Ende tot ist. Sprachwissenschaftler*innen sprechen davon, dass töten ein sogenannten Resultatsverb ist, denn es bezeichnet das Resultat – ‚tot sein‘ – einer Handlung.

Das Verb töten sagt also etwas über das Resultat einer Handlung aus, aber wie wird diese Handlung ausgeführt? Töten kann auf sehr unterschiedliche Weisen erfolgen, zum Beispiel mit einem Schwert. Wird eine Person mit einem Schwert getötet, dann bedeutet dies, dass diese Person erschlagen oder erstochen wurde. Alternativ kann aber auch mit einer Pistole getötet werden, wobei dann durch einen Schuss aus der Pistole oder einen Schlag mit der Pistole getötet wurde. Es sind verschiedene Arten des Tötens denkbar, das Verb töten ist mit (vermutlich) allen kompatibel. Damit ist töten kein Verb der Art und Weise, da es  in seiner Bedeutung die Art und Weise der Handlung nicht festlegt.

Andere Verben sind anders. Viele Verben legen in ihrer Bedeutung die Art und Weise einer Handlung, aber kein Resultat fest. Hüpfen, tanzen, steppen, springen sind Verben, die eine bestimmte Art der Bewegung bezeichnen. Sich hüpfend bewegen ist eine andere Form der Bewegung als sich springend, tanzend oder steppend zu bewegen. Die Bewegungen können auf der Stelle ausgeführt werden, wichtig ist aber. Das Ziel der Bewegung musss explizit gemacht werden in die Bücherei hüpfen/ tanzen/ steppen/ springen. Nicht das Verb, sondern die Präpositionalphrase – in die Bücherei – gibt das Resultat – also das Ziel der Bewegung – an.

Verschiedene Linguist*innen haben die Hypothese aufgestellt, dass Verbbedeutungen nicht beliebig komplex sein können. Ein Verb ist entweder ein Resultatsverb oder ein Verb der Art und Weise. Verben, die in ihrer Bedeutung sowohl ein Resultat als auch die Art und Weise der Erreichung des Resultats kodieren, soll es nicht geben.

John Beavers und Andrew Koontz-Garboden, zwei amerikanische Sprachwissenschaftler, haben diese Hypothese angezweifelt. Es gibt Verben, so die beiden, die sowohl ein Resultatkomponente als auch eine Art und Weise-Komponente in ihrer Bedeutung beinhalten. Als Beispiele führen sie Verben des Tötens an. Leider gehört töten selbst gerade nicht in diese Klasse aber dafür englische Verben wie guillotine auf Deutsch guillotinieren oder electrocude,das man auf Deutsch als ‚durch einen Stromschlag/ auf dem elektrischen Stuhl töten‘ übersetzen kann. Diese Verben drücken aus, dass eine Person am Ende tot ist und sagen zusätzlich etwas darüber aus, wie dieses töten erfolgt.

Das Deutsche hat auch einige Verben, die in diese Klasse gehören. Aber die meisten dieser Verben sind komplex und enthalten zum Beispiel das Präfix er-, wie in erdolchen ‚mit einem Dolch töten‘, erwürgen ‚durch Würgen töten‘ oder erschießen ‚durch Schießen töten‘. Nun kommt aber dann endlich Heinrich Heine ins Spiel. Heine hat sehr schön darauf hingewiesen, dass es Verben gibt, die einerseits nicht komplex sind und anderseits Resultat und Art und Weise in ihrer Bedeutung spezifizieren.

In „Deutschland ein Wintermärchen“ reist der Ich-Erzähler durch Deutschland und trifft irgendwann auf Barbarossa, der seit längerer Zeit in einer Höhle ruht und daher die neuesten Entwicklungen in Deutschland und der Welt verpasst hat. Er lässt sich dann erst einmal auf den aktuellen Stand bringen und die Rede kommt dann auf die neueste Mode aus Frankreich – guillotinieren:  

Der Kaiser blieb plötzlich still stehn,
Und sah mich an mit den stieren
Augen und sprach „Um Gottes willn,
Was ist das, guillotinieren?“
Das Guillotinieren – erklärte ich ihm –
Ist eine neue Methode,
Womit man die Leute jeglichen Stands
Vom Leben bringt zu Tode.
Bei dieser Methode bedient man sich
Auch einer neuen Maschine,
Die hat erfunden Herr Guillotin,
Drum nennt man sie Guillotine.
Du wirst hier an ein Brett geschnallt; –
Das senkt sich; – du wirst geschoben
Geschwinde zwischen zwei Pfosten; – es hängt
Ein dreieckig Beil ganz oben; –
Man zieht eine Schnur, dann schießt herab
Das Beil, ganz lustig und munter; –
Bei dieser Gelegenheit fällt dein Kopf
In einen Sack hinunter.

(Heinrich Heine: Deutschland ein Wintermärchen, Caput XVI; https://www.projekt-gutenberg.org/heine/wintmrch/wintmr16.html)

Heine beschreibt das Guillotinieren sehr klar als auf eine bestimmte Art und Weise zu töten. Damit hat Heine aufgezeigt, dass es Verben gibt, die sowohl ein Resultat als auch eine Art und Weise spezifizieren. Und das auch noch einige Jahrzehnte bevor diese Frage in der modernen Sprachwissenschaft überhaupt auf Trapez kam. Heine argumentiert zwar nicht sprachwissenschaftlich, seziert die Verbbedeutung von guillotinieren aber trotzdem sehr treffend.

Zur Komplementarität von Resulats- und Art und Weise-Komponenten gibt es zahlreiche Aufsätze. Hier nur ein paar Quellenangaben:

Rappaport Hovav, Malka & Beth Levin. 2010. Reflections on Manner/Result Complementarity. In Malka Rappaport Hovav, Edit Doron & Ivy Sichel (Hrsg.). Lexical Semantics, Syntax, and Event Structure. Oxford: Oxford University Press. Seiten: 21-38.

Beavers, John & Andrew Koontz-Garboden. 2012. Manner and Result in the Roots of Verbal Meaning. Linguistic Inquiry 43 (3): 331-369.

‚Leichte Sprache‘ ist eine Verunglimpfung des Deutschen

Über den VDS und dessen unklarer Position zur ‚Leichten Sprachen‘

Der VDS – Verein für deutsche Sprache – ist ein in Dortmund ansässiger Verein, der sich die Pflege der deutschen Sprache zum Ziel gesetzt hat. Insbesondere fällt der Verein durch seinen Einsatz gegen die Verwendung geschlechtergerechter Sprache in Verwaltung, Schulen und Medien auf. Der VDS ist aber kein One-Hit-Wonder sondern in verschiedenen Bereichen aktiv. Aber irgendwie ist nicht immer klar, welche Position der Verein nun vertritt. Dies wurde bei einer kleinen Auseinandersetzung zum Thema ‚Leichte Sprache‘ deutlich.

‚Leichte Sprache‘ ist eine künstliche Varietät des Deutschen. Die Zielsetzung hinter der Verwendung dieser Varietät ist eine barrierefreie Kommunikation. ‚Leichte Sprache‘ ist im Hinblick auf die Grammatik vereinfacht und es gibt konkrete Gebrauchsvorschläge, die unter anderen die Komplexität von Sätzen und die Typographie geschriebener Sprache betreffen.

Auf den Seiten des VDS-Region Dresden steht zum Thema ‚Leichte Sprache‘:

Wir versuchen, immer mehr Menschen auf die wachsende Verunglimpfung der deutschen Sprache durch die „politisch-korrekte“ Gendersprache und die sogenannte Leichte Sprache aufmerksam zu machen, denn dieser Entwicklung muss Einhalt geboten werden.   

(https://vds-ev.de/regionale-infoseiten/infoseite-region-01/)

‚Leichte Sprache‘ wird als Verunglimpfung der deutschen Sprache bezeichnet und steht auf einer Ebene mit dem ultimativen Bösen – der ‚Gendersprache‘. Würde mensch vermuten, dass der VDS positiv zum Thema ‚Leichte Sprache‘ eingestellt ist? Vermutlich nicht. Davon bin ich auch nicht ausgegangen und fragte den VDS via Twitter, wieso sie gegen ‚Leichte Sprache‘ stellen. Anlass war folgender Tweet des VDS:

Wer nicht gendert, ist verdächtig. Weil man automatisch rückwärtsgewandt sein muss, wenn man auf eine verständliche Sprache Wert legt. So zumindest die Logik der Genderbefürworter, die im Denunziantentum den neuen Heilsbringer sehen.

(https://twitter.com/VDS_weltweit/status/1638180895835279361?s=20)

Wenn also Gendern aufgrund von Verständlichkeit abgelehnt wird, sollte mensch doch die Verwendung leichter Sprache nicht auch ablehnen können. Denn immerhin geht es dabei doch um Verständlichkeit. Der VDS reagierte irritiert und fragte, wie ich denn auf so eine Idee käme. Nachdem ich den Hinweis auf die Webseite des VDS-Region Dresden gepostet hatte, kam als Antwort:

Besser googeln lernen. Leichte Sprache dort, wo sie Menschen hilft, die die            Normsprache überfordert. Den ersten Link zur Suche hast du vermutlich nur „übersehen“. Aber schön, dass dir nicht langweilig mit uns wird.

(https://twitter.com/VDS_weltweit/status/1638426808801525762?s=20)

Unterstellt mir der VDS, dass ich absichtlich etwas Entlastendes übersehen hätte? Die Anführungszeichen legen es zumindest nahe. Sehen wir uns einmal an, worauf der VDS da verweist. Unter folgendem Link, der zu dem Tweet gehört, findet sich ein Artikel aus der Vereinszeitung des VDS: https://t.co/hhxfRVQhus. In den Sprachnachrichten (so der Name der Vereinszeitung) aus dem Jahr 2015 hatten Gloria Nsimba und Reiner Pogarell einen Artikel mit dem Titel „Leichte Sprache – der Rollstuhl unter den Ausdrucksformen“ veröffentlicht. Unabhängig davon, was in dem Artikel steht, es ist nur ein Artikel in der Vereinszeitung des VDS. Es ist keine öffentliche Verlautbarung des VDS.

Mir stellt sich die Frage, ob denn nun die Autor*innen offiziell für den VDS sprechen oder nicht? Es erscheint mir nicht unmittelbar evident, dass ein Beitrag zweier Autor*innen als die offizielle Position des VDS angesehen werden kann, während ein offizielles Statement auf einer VDS-Seite dies nicht ist. Aber gut, nachfragen kann mensch ja. Ich habe mehrfach den VDS gefragt, ob denn nun Nsimbas und Pogarells Beitrag die offizielle Position des VDS darstellt und wenn ja, ob dies auch der VDS-Region Dresden weiß. Der VDS wollte darauf nicht wirklich antworten, irgendwann kam die genervte Antwort:

Du hast vor 3 Tagen eine Antwort dazu bekommen. Wenn dir immer noch langweilig ist, rede mit dir oder anderen übers Klima.

(https://twitter.com/VDS_weltweit/status/1639632618760159232?s=20)

Drei Tage zuvor kam aber nur der Verweis auf den Artikel in der Vereinspostille. Anscheinend wurde meine Nachfrage beim VDS nicht verstanden. Noch einmal zur Erklärung: Die Autor*innen eines Artikels sind für den Artikel verantwortlich und die Aussagen, die in dem Artikel gemacht werden, sind ihnen zuzuordnen. Die Autor*innen des vom VDS verlinkten Artikels sind Nsimba und Pogarell und mit keinem Wort steht dort, dass sie für den VDS sprechen oder in irgendeiner Form die Sicht des Vereins darlegen. Anders sieht es aus, wenn eine Webseite ganz offiziell dem VDS zuzuordnen ist. Die Seite der VDS-Region Dresden stellt eine Unterseite der VDS Webseite dar und sollte somit durchaus einen offiziellen Status haben!

Damit bleibt eigentlich nur eine Schlussfolgerung übrig: die einzige offizielle Äußerung des VDS zur ‚Leichten Sprachen‘ ist negativ und beschreibt diese als ‚Verunglimpfung der deutschen Sprache‘. Damit widerspricht sich der VDS selbst. Die Darstellung in den Tweets passt nicht zu der Darstellung auf der Webseite. Der VDS hätte die Chance gehabt dies als Antwort auf meine Tweets anders darzulegen, aber diese Chance wurde nicht genutzt. Es wäre sicherlich sinnvoll, wenn die für die öffentliche Darstellung verantwortlichen Personen sich einmal mit dem Thema ‚Autorenschaft‘ auseinandersetzen.

Der Verein für deutsche Sprache ist nicht an einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Position interessiert. Es ging nicht einmal wirklich um eine Diskussion inhaltlicher Fragen sondern nur darum, welche Äußerungen des VDS unmittelbar zugeordnet werden können und welche nicht. Leider hat der VDS nicht verstanden und tut so als würden Beiträge irgendwelcher Autor*innen mehr für sie sprechen als offizielle Äußerungen auf der VDS-Seite.

Die Diskussion entlarvt sehr schön, dass ‚Verständlichkeit‘ nur ein vorgeschobenes Argument gegen Gendern darstellt. Dem VDS geht es nicht um eine verständliche (inklusive) Sprache, sondern um ein Deutsch im Sinne des Vereins. Das ist ein Deutsch ohne ‚Denglisch‘, ohne ‚Gendersprache‘ und ohne ‚Leichte Sprache‘.

Aber vielleicht ist der VDS ja wirklich nicht gegen ‚Leichte Sprache‘? Dann wäre es aber auch gut, wenn dies und nicht das Gegenteil auf dem Internetseite des VDS zu lesen wäre. Ein Tipp lieber VDS: vielleicht sucht ihr auch einmal das Gespräch mit eurer Regionalgruppe in Dresden, da ist eventuell noch Überzeugungsarbeit hinsichtlich der Akzeptanz leichter Sprache zu leisten.

Nachtrag 30.05.2023: Ich nerve und nerve den VDS, aber was passiert? Nix! Der VDS weigert sich auf die Kritik einzugehen und tritt weiterhin mit dem Argument auf, dass Gendern zu komplex sei und Menschen, die es nötig hätten, durch Gendern ausgeschlossen werden würden. Vielleicht trifft das Argument zu, aber es ist schal, wenn es von einem Verein kommt, der Leichte Sprache ablehnt. Der VDS schweigt zu dieser Kritik hartnäckig, ob das wohl als Eingeständnis dafür, dass die Kritik absolut zutreffend ist, gewertet werden kann?

Nachtrag 23.02.2024: Bislang habe ich keine Reaktion des VDS bezüglich meiner wiederholten Anfrage, warum denn der Verein geschlechtergerechte Sprache ablehnt, da dies vermeintlich zu komplex sei, zugleich aber ein Statement des Vereins kursiert, in dem Leichte Sprache abgelehnt wird. Mittlerweile ist das entsprechende Zitat, wie auch die Präsenz des Ortsverbandes Dresden, nicht mehr online. Über die Gründe kann ich nur spekulieren, immerhin ist ja in der Zwischenzeit so einiges geschehen, was auch den VDS in die Öffentlichkeit rückte. Vielleicht waren solche Äußerungen einfach nicht mehr passend? Egal, denn über das obige Zitat hat bereits Gerd Antos in seinem Aufsatz Ist der Laie der Dumme? geschrieben (Gerd Antos. 2021. Ist der Laie der Dumme? In Toke Hoffmeister, Markus Hundt & Saskia Naths (Hrsg.). Laien, Wissen, Sprache, S. 25-48. Berlin: De Gruyter). Es ist also nicht aus der Welt geschaffen…

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Klimademo in Viersen

Redebeitrag auf der Klimademo am 3.3.2023 in Viersen

Heute starten wir in der Kreisstadt Viersen die Aktionstage Klimaneutralität. Morgen setzen wir diese Aktionstage von 11 bis 15 Uhr mit Informationsständen in der Lobbericher Innenstadt fort. Unsere heutige Klimademo, die die Parents for Future Kreis Viersen und Fridays for Future Nettetal – mit Unterstützung weiterer Gruppen – organisiert hat, steht ebenfalls unter der Überschrift ‚Klimaneutralität‘.

Unser Anliegen ist es, dass die Städte des Kreises Viersen bis zum Jahr 2030 klimaneutral sind, das heißt, dass nicht mehr CO2 emittiert wird als durch entsprechende Maßnahmen auch wieder aufgefangen werden kann.

Um dies zu erreichen, brauchen wir insbesondere eine Energie- und Mobilitätswende. Der heutige Klimastreik der for Future-Bewegung schiebt die notwendige Mobilitätswende in den Fokus. Dazu werden wir gleich noch weitere Redebeiträge hören. Ich möchte aber kurz auf ein paar andere Aspekte eingehen.

Unsere Demonstration startet heute am Platz der Kinderrechte, den der Kinderschutzbund letztes Jahr hier eingeweiht hat. Die Wahl dieses Ortes ist kein Zufall, denn die Klimakrise bedroht insbesondere die Zukunft unserer Kinder und Enkel. Zwar bekommen wir schon jetzt die Auswirkungen der Klimakrise zu spüren, aber die negativen Auswirkungen werden in den nächsten Jahren und Jahrzehnten noch deutlich zunehmen. Wer Kinderrechte erst nimmt, muss auch Klimaschutz ernst nehmen. Ohne konsequente Klimaschutzmaßnahmen übergeben wir unseren Kindern und Enkeln eine überhitze Welt und übergehen ihr Recht darauf, in einer intakten Welt aufzuwachsen und zu leben. Noch können wir versuchen, die schlimmsten Auswirkungen der drohenden Klimakatastrophe abzumildern. Aber dazu müssen wir heute handeln – morgen ist es zu spät!

Wir haben gerade einmal den 3. März, aber klimapolitisch startete 2023 mehr als turbulent. Die FDP spielt eine strikte Blockaderolle in der Verkehrspolitik und verweigert sich allen sinnvollen klimapolitischen Maßnahmen im Verkehrssektor. Aber schon früher im Jahr ereignete sich, was abzusehen war. Lützerath wurde geräumt.  

Lützerath wurde – wie wir wahrscheinlich alle wissen – geräumt, damit RWE die drunter befindliche Kohle abbaggern kann. Bis mindestens 2030 wird der rheinische Tagebau und die dazu gehörenden Kohlekraftwerke weiterhin einer der größten CO2-Emittenten Europas sein.

2030 soll wohl – mehr oder weniger – Schluss sein mit dem Tagebau. Aber bis dahin muss die Energiewende deutlich vorangeschritten sein, damit die Braunkohlekraftwerke auch tatsächlich abgeschaltet werden. Dieser Ausstieg aus der fossilen Energie kann nur erfolgreich sein, wenn wir CO2-neutrale Energieträger – insbesondere Sonne, Wind und Wasser – noch stärker nutzen als bisher. Gerade den Kommunen kommt dabei eine wichtige Rolle zu, da sie insbesondere den Ausbau von Solarenergie fördern und vorantreiben können. Für die Kommunen des Kreises Viersen fordern wir daher eine sofortige Solarpflicht auf öffentlichen Dächern und für alle Neubauten.  

Die Verantwortung für den Klimaschutz können wir nicht delegieren. Das Verhalten der FDP macht deutlich, dass wir konsequenten Klimaschutz nicht bekommen, wenn wir uns darauf verlassen, dass die Politik dies schon alleine regeln wird. Klimaschutz müssen wir in unsere Hand nehmen und eine konsequente Umsetzung effektiver Klimaschutzmaßnahmen nicht nur fordern, sondern auch für ihre Umsetzung einstehen. Das machen wir heute, indem wir mit Menschen in aller Welt auf die Straße gehen und allen Verantwortlichen – in Politik, Verwaltung und Wirtschaft – unsere Forderungen darlegen:

Wir fordern eine echte Energiewende, das heißt eine sofortige Abkehr von fossilen Energieträgern.

Wir fordern eine sozial-ökologische Verkehrswende, die nicht das Auto, sondern klimaneutrale Fortbewegungsmittel und den öffentlichen Personennahverkehr in den Mittelpunkt der Verkehrsplanung stellt 

Wir fordern, dass unsere Städte bis 2030 klimaneutral sind. Aber das gelingt nicht, wenn Firmen, die in unserem Kreis ansässig sind, mit ihren blauen Baggern am Tagebau Garzweiler buchstäblich die 1,5 Grad-Grenze einreißen.

Gemeinsam demonstrieren wir heute für diese Forderungen in der Kreisstadt Viersen. Weltweit haben Menschen die gleichen Forderungen und gehen dafür überall auf die Straße. Leider mussten wir heute hören, dass Menschen nicht überall friedlich für Klimaschutz demonstrieren können. In Nairobi wurde die Demonstration von Fridays for Future angegriffen, Aktivisten wurden dabei verletzt. Daher ist es umso wichtiger, dass wir dort, wo wir ungefährdet demonstrieren können, auf die Straße gehen und denen, deren Protest in Gewalt erstickt wird, eine Stimme geben. Daher sollten wir heute besonders laut sein, auch für die, die es nicht sein können.

Rede am 3.3.2023

Anmerkung: Die Klimademo am 3.3.2023 startete am Rathausmarkt in Viersen. Eine Ecke des Platzes ist in ‚Platz der Kinderrechte‘ benannt worden. Der Redebeitrag war die Eröffnungsrede der Demo, der weitere Redebeiträge unter anderem zum Thema Mobilitätswende folgten.

Tipps zum Umgang mit der Klimakrise

Wie die RP den Umgang dem festgeklebten Klimaaktivist*innen empfiehlt

Wir befinden uns mitten in der Klimakrise, daher ist es begrüßenswert, wenn Zeitungen praktische Hilfestellungen anbieten. Dankenswerterweise hat auch die Rheinische Post reagiert und gibt nun eine Hilfestellung, wie Mensch in der Klimakrise agieren kann. Unter dem Titel „Darf man Klima-Kleber als Autofahrer selbst wegtragen?“ geht die RP genau dieser Frage nach.

Befragt wird ein – wie es heißt – renommierter Düsseldorfer Rechtsanwalt. Er räumt ein, dass Autofahrer*innen nicht einfach so selbstständig eine Straße räumen dürfen, wenn „Klima-Kleber“ diese blockieren. Aber, so heißt es im Verlauf des Artikels, es gibt durchaus Anlässe, in denen Autofahrer*innen aktiv werden dürfen. Hier die entsprechende Stelle aus dem Artikel:

„Anders könnte es sein, wenn über die bloße körperliche Anwesenheit der Kleber ein besonderer Druck auf mich ausgeübt wird, weil ich etwa durch die feste Verbindung der Personen mit der Straße tatsächlich und nicht nur psychisch am Weiterfahren gehindert werde. Dann dürfte ich unter Notwehrgesichtspunkten versuchen, die Personen zu entfernen“, so Bott weiter.

Also: sitzt ein Klimaaktivist oder eine Klimaaktivistin auf der Straße, dann dürfen Autofahrer*innen nicht selbstständig aktiv werden und versuchen die Straße zu räumen. Kleben sich Klimaaktivist*innen auf die Straße, sieht die Sache anders aus. Im Artikel heißt es, dass bislang Polizist*innen die an der Straße festgeklebten Klimaaktivist*innen von der Straße gelöst hätten. Im Artikel fehlt aber ein Hinweis, dass man festgeklebte Aktivist*innen nicht einfach so entfernen kann. Das Klebemittel muss sorgsam gelöst werden, damit es nicht zu Verletzungen kommt. Es wäre interessant gewesen, wie sich Herr Bott – aber noch mehr die RP – über mögliche Verletzungen der Klimaaktivist*innen durch unsachgemäßes Wegtragen durch Autofahrende äußern würde.

Ich glaube ja nicht, dass die RP möchte, dass Klimaaktivist*innen absichtlich verletzt werden. Aber es wäre doch nicht verkehrt gewesen zu sagen, dass festgeklebte Aktivist*innen nicht einfach weggetragen werden können. Um es deutlichzu sagen: Menschen, die sich festgeklebt haben, können nicht einfach weggeztragen werden, ohne sie zu verletzten. Das Lösen der festgeklebten Hände sollte der Polizei überlassne werden, die – wie es auch im Atrtikel heißt – dazu explizit geschult wird. Liebe RP, bitte weist doch auf diesen Umstand explizit hin und macht deutlich, dass das Wegtragen festgeklebter Personen zu Verletzungen führt!

In dem Artikel der RP wird immer wieder von „Klima-Klebern“ gesprochen, die Klimaaktivist*innen werden auf einen Umstand – sie kleben sich aus Protest u.a. auf Straßen fest – reduziert. Die RP schreibt explizit: „[…] dabei kleben sich Mitglieder der Bewegung regelmäßig auf Hauptstraßen fest, um den Verkehr zu blockieren“. Diese Aussage suggeriert, dass es der Letzten Generation lediglich um eine Verkehrsblockade geht. Das ist aber nicht das Anliegen, es geht um eine Störung der normalen Abläufe, um auf klimapolitische Ziele aufmerksam zu machen. Die Anliegen der Letzten Generation sind recht einfach zusammenzufassen: (i) Tempolimit von 100 hm/h auf Autobahnen und (ii) ein dauerhaftes 9 Euro-Ticket.

Das Framing der RP nimmt den Aktivist*innen der Letzten Generation ihre klimapolitische Ziele und reduziert sie zu bloßen Störer*innen. Dieses Framing ist nicht dazu geeignet, Autofahrer*innen von unnötigen Maßnahmen gegen festgeklebte Klimaaktivist*innen abhalten. Es ist zu hoffen, dass Autofahrer*innen den Bericht der RP einzuschätzen wissen und sich nicht dazu veranlasst fühlen, Klimaaktivist*innen ohne sachgemäße Lösung von der Straße zu tragen.

Die RP und alle Autofahrer*innen, die sich durch die Aktionen der Letzten Generation gestört fühlen, könnten auch etwas tun, damit diese Aktionen beendet werden. Setzt euch für ein Tempolimit von 100 km/h auf Bundesautobahnen und ein 9 Euro-Ticket ein. Beides hätte deutliche Klimaschutzeffekte und – im Nebeneffekt – würde die Erreichung dieser Ziele die Letzte Generation (vermutlich) von der Straße bringen.

Der Richter ist schon wieder schwanger

Wie generisch ist das Maskulinum?

Der Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen ist nicht weiter ungewöhnlich. Dennoch gibt es Streit darüber, was er bedeutet. Konkret geht es um das Nomen Richter. Bezieht sich Richter nur auf Personen männlichen Geschlechts oder können mit dem Nomen Männer und Frauen gemeint sein? Letztere Idee steht hinter der Hypothese des sogenannten ‚generischen Maskulinums‘. Diese besagt konkret: maskuline Nomen zur Personenbezeichnung beziehen sich nicht nur auf Männer, sondern auch auf Frauen. Diese Hypothese muss etwas eingeschränkt werden, es geht dabei natürlich nur um Nomen, die nicht aufgrund ihrer Bedeutung nur Männer meinen, zum Beispiel die Nomen Mann, Vater oder Opa. Nomen, die keine Personen bezeichnen (der Ball, der Sturm, der Winter) sind von der Hypothese ebenfalls ausgeschlossen, da Geschlecht (oder auch Sexus) eine Eigenschaft belebter Individuen ist.

Ist es möglich mit Richter Männer und Frauen bezeichnen? Natürlich scheint es möglich zu sein, aber fühlen sich Frauen davon auch angesprochen. Aber vielleicht ist das ’natürlich scheint es möglich zu sein‘ auch etwas übereilt. Wie sieht es denn mit dem Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen aus? Dass er seltsam klingt liegt an der Kombination aus er und Baby stillen. Ein Baby stillen bedeutet, dass Baby über die Brust mit Muttermilch füttern. Männer können das nicht.

Wäre Richter eine wirklich generische Form – im Sinne dessen, dass das Nomen Bezug auf Personen jeglichen Geschlechts erlaubt – , sollte der obige Satz nicht seltsam erscheinen. Können wir ihn besser machen, vielleicht wenn wir er durch sie ersetzen? Der Richter kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen. Irgendwie klingt der Satz aber auch nicht besser, was nahelegt, dass es nicht am Pronomen, sondern wirklich an dem Nomen Richter liegt, das nicht gut mit Tätigkeiten assoziiert werden kann, die von Männern nicht ausführbar sind.

Wenn ich schreibe ‚klingt seltsam‘ oder ‚klingt auch nicht besser‘, gebe ich meine Intuitionen wieder. Es wäre sinnvoll, diese Intuitionen in sauber designten experimentellen Studien zu überprüfen. Beispielsweise wäre es möglich zu testen, ob Sprecher*innen länger brauchen um den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen zu lesen als den Satz Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch seinen Hunger stillen. Oder braucht ein Leser/ eine Leserin länger, wenn er/sie Der Richter kam zu spät, er musste zuerst noch sein Baby stillen im Vergleich zu Die Richterin kam zu spät, sie musste zuerst noch ihr Baby stillen liest? Alternativ könnte der menstruiende Richter mit der urinierende Richter verglichen werden. Meine Intuition ist, dass der menstruierende Richter arg seltsam klingt. Seltsam zu klingen bedeutet nicht ungrammatisch zu sein. Aber wenn etwas seltsam klingt, dann ist dies doch ein Indiz dafür, dass ein sprachlicher Ausdruck nicht als ‚normal‘ bewertet wird. Wichtig ist, dass wir auf diese Weise eine Hypothese aufstellen können, die sich experimentell überprüfen lässt. Gibt es das generische Maskulinum, sollte sich kein Unterschied zwischen den Sätzen ergeben. Wenn es doch kein generisches Maskulinum ist, wäre ein Unterschied zu erwarten (Die Sätze mit der Richter … er … sein Baby stillen sollten mehr Zeit beim Lesen (= Verarbeiten) brauchen als die Vergleichssätze).

Bisher ging es nur um die Singularform Richter. Was ist aber mit dem Plural? Die Richter kamen zu spät, sie mussten erst noch ihre Babies stillen? Oder Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger. Sind die Pluralsätze besser als die Singularsätze? Bezieht die Pluralform Frauen mit ein?

Vorweg: im Plural gibt es im Deutschen keine Genusunterscheidung mehr. Genus erkennen wir im Deutschen nur an der Form des Artikels bzw. Adjektivs, der/das ein Nomen modifiziert (Sprachwissenschaftler*innen sprechen von Kongruenz). Im Plural verlangen alle Nomen, egal welchem Genus sie im Singular angehören, dieselbe Form des Adjektivs/Artikels. Also der Richter, die Richterin, das Kind – aber die Richter, die Richterinnen, die Kinder.

Wäre die Pluralform generisch – könnte also für alle Geschlechter verwendet werden – , müsste von einem ‚generischen Plural‘ und nicht von einem ‚generischen Maskulinum‘ gesprochen werden. Ich bin mir bezüglich des Plurals nicht sicher. Die Pluralform scheint besser zu sein, aber ganz eindeutig ist mein Urteil nicht. Aber das ist auch egal, denn mittels experimenteller Methoden kann man dem auf den Grund gehen. Wie für die Singularbeispiele kann man also auch für die Pluralbeispiele vergleichen, ob Leser*innen für das Lesen eines Satzes wie Am Landgericht sind drei Richter beurlaubt, alle drei sind schwanger länger/kürzer/gleich lang brauchen wir für den Satz Am Landgericht sind drei Richter*innen beurlaubt, alle drei sind schwanger.

Solche Experimente werden natürlich so durchgeführt, dass die Versuchspersonen nicht wissen, worum es geht. Zudem sollte die Gruppe der Versuchspersonen zu zusammengesetzt sein, dass sie möglichst heterogen ist – zum Beispiel nicht nur Genderideologen aus dem Verein für deutsche Sprache. Natürlich wäre es auch interessant zu wissen, ob die Einstellung der Versuchsperson zum Thema Gendern eine Auswirkung auf die Versuchsergebnisse hat. Dies kann man auch abtesten und auswerten.

Das generische Maskulinum ist keine Glaubenssache, sondern kann experimentell untersucht werden. Intuitionen legen die Hypothese nahe, dass die Singularform – die maskuline Form – eine (starke) Assoziation mit männlichen Personen aufweist.   

Die Diskussion des generischen Maskulinums ist erst einmal unabhängig vom Thema Gendern. Bei der Frage nach dem generischen Maskulinum geht es darum, welche Form von Personenreferenz – also Bezugnahme auf Menschen – durch ein Nomen mit maskulinem Genus erfolgt. Beim Gendern geht es um die Sichtbarmachung von Personen unterschiedlichen Geschlechts (was auch noch einmal unabhängig davon ist, ob eine binäre oder nicht-binäre Geschlechtsunterscheidung angenommen wird). Aus der Beobachtung, dass maskuline Nomen, die auf Menschen referieren, nicht unbedingt Frauen mitmeinen, kann man leicht zu der Idee übergehen, dass Gendern sinnvoll ist. Denn durch Gendern – zumindest eine Beidnennung wie Richterin und Richter – wird deutlich, dass Frauen mitgemeint sind. Dieser Schluss muss aber nicht zwingend gezogen werden. Wichtig in der Genderdiskussion ist aber, dass die einzelnen Themenkomplexe, die in der Debatte vermengt werden, auseinandergehalten werden.

Die Frage, ob es ein generisches Maskulinum gibt, ist eine linguistische. Ob Mensch gendern sollte, ist dagegen eine nicht genuin linguistische Fragestellung, sondern hat mit Sprechereinstellungen zu tun. Dabei geht es nicht nur um Einstellung der Sprecher zur Sprache, sondern auch zu außersprachlichen Faktoren. Beide Fragestellungen müssen daher auch mit unterschiedlichen Methoden untersucht werden.

1. Nachtrag: Ein/e Twitteruser/in hat bemängelt, dass der Text keine Quellenangaben enthalten würde. Bei meiner Sprachintuition bin ich die Quelle. Die Intuition erscheint mir aber einigermaßen robust – zumindest was die Singularformen angeht – , da ich in mehrere Seminaren Studierende zu diesen Formen befragen konnte. Zum Genus gibt es zahlreiche gute wissenschaftliche Arbeiten, die das Thema umfassend beleuchten. G. Corbett’s Buch Gender (erschienen bei Cambridge University Press) führt in das Thema ‚Genus‘ sehr umfassend ein und zeigt auch gut auf, wie man Genusklassen über Kongruenzmuster feststellen kann. Auch der Aspekt der Genusneutralisation im Plural findet sich dort. Überhaupt ist dies Thema in zahleichen Arbeiten zum deutschen Genus. Wer eine explizite Referenz möchte: aus dem Jahr 2008 D. Nübling Was tun mit Flexionsklassen? erschienen in Zeitschrift für Dialektologie & Linguistik Band 75, Heft 3. Zur Frage, wie Genus und Sexus zusammenhängen, gibt es auch sehr gute Arbeiten, die die Forschungsliteratur zusammenfassen. Von D. Nübling & H. Kotthoff gibt es z.B. den Band Genderlinguistik, der bei Narr erschienen ist. Da fehlt dann natürlich auch das Thema ‚generisches Maskulinum‘ nicht.

Zusätzlich gibt es zahlreiche Untersuchungen zu der Frage, ob beim ‚generischen Maskulinum‘ Frauen mitgemeint sind. Ein Klassiker stellt L. Puschs Buch Das Deutsche als Männersprache dar. Aber auch experimentell wurde einiges gemacht. Hier nur ein paar Titel:

Heise, E.. 2000. Sind Frauen mitgemeint? Eine empirische Untersuchung zum Verständnis des generischen Maskulinums und seiner Alternativen. Sprache & Kognition 19 (1-2): 3-13.

Irmen, L., & Köncke, A. 1996. Zur Psychologie des „generischen“Maskulinums . Sprache & Kognition, 15( 3): 152–166.

Braun, F., Gottburgsen, A., Sczesny, S. & Stahlberg, D. 1998. Können Geophysiker Frauen sein? Generische Personenbezeichnungen im Deutschen. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 26 (3): 265-283.

Braun, F., Sczesny, S., Stahlberg, D. 2002. Das generische Maskulinum und die Alternativen: Empirische Studien zur Wirkung generischer Personenbezeichnungen im Deutschen. Germanistische Linguistik 167-168: 77-87.

2. Nachtrag (10.02.2023): Ich habe oben die Frage aufgeworfen, ob eine Pluralform, die von einem maskulinen Nomen gebildet ist, eine wenige starke Assoziation mit männlichen Referenten aufweist als das ‚generische Maskulinum‘. Eine Studie von Gygax et al. (2008) legt nahe, dass das nicht so ist. Probanden bekamen Sätze der Art Die Sozialarbeiter liegen durch den Bahnhof. Wegen der schönen Wetterprognose trugen mehrere der Männer/Frauen keine Jacke. Die Aufgabe war zu entscheiden, ob der zweite Satz eine mögliche Fortsetzung des ersten Satzes darstellt. Dabei wurde die Reaktionszeit der Versuchsteilnehmer gemessen. Die Reaktionszeiten waren schneller, wenn in dem zweiten Satz Männer genannt wurde. Die Autoren schließen daraus, dass das Genus der (zugrundeliegenden) Singularform eine Sexusassoziation des Plurals bewirkt.

Gygax, P., Gabriel, U., Sarrasin, O., Oakhill, J. & Garnham, A. 2008. Generically intended, but specifically interpreted: When beauticians, musicians, and mechanics are all men. Language and Cognitive Processes 23 (3): 464-485.

Das Kind hat sowieso keine Zukunft

Heute (02.01.2023) haben die Parents for Future – Kreis Viersen eine Mahnwache für den Erhalt Lützeraths in Viersen abgehalten. Angemeldet waren zwar nur drei Teilnehmer, erfreulicherweise wurden wir aber mehr. Zeitweise wurden wir von mindestens vier Polizisten beschützt, obwohl bei größeren Mahnwachen sonst nur zwei Polizisten anwesend waren.

Der Regen hörte rechtzeitig zur Mahnwache auf und mit umgehängten Plakaten konnten wir die Passanten auf die Demo am 14.01. hinweisen. Das Infomaterial ging ebenfalls gut weg. Aber eine Begegnung blieb mir dann doch in Erinnerung. Eine junge Mutter ging mit ihrer Tochter – schätzungsweise 4 Jahre – an uns vorbei. Die Mutter blieb nicht stehen, die Tochter schon. Sie schaute uns an, sagte „Hallo“ und winkte. Ich habe zurückgewunken und da rief die Mutter auch schon: „Komm, so einen Scheiß brauchen wir nicht“. Ich antwortete der Mutter, dass es hier um Klimaschutz geht und damit auch um die Zukunft ihrer Tochter. Die Antwort der Mutter, die sie über den Kopf ihrer Tochter hinweg gab, war: „Das Kind hat sowieso keine Zukunft“.

Sagt man einem Kind oft genug, dass es keine Zukunft hat, glaubt es das vielleicht sogar. Aber warum glaubt diese junge Mutter das? Wieso gibt sie jetzt schon die Zukunft ihrer kleinen Tochter auf? Was hat sie so resignieren lassen, dass sie jetzt schon keine Zukunft für ihre kleine Tochter sieht? Leider konnte ich die Frau nicht mehr fragen. Aber liegt es vielleicht daran, dass Aktionen für eine lebenswerte Zukunft – Klimaschutz!!! – als „scheiß“ bezeichnet werden?

Auch wenn diese junge Mutter keine Zukunft für ihre Tochter sieht, wir schon! Deshalb standen wir – also die anderen Parents for Future und ich – heute in der Fußgängerzone und haben zum wiederholten Male auf Lützerath und die Gefahr, die der Abriss Lützeraths für die 1,5 Grad-Grenze bedeutet, hingewiesen. Obwohl wir die Problematik der Klimakrise sehr bewusst wahrnehmen, glauben wir doch fest daran, dass das 4-jährige Mädchen eine Zukunft haben kann. Wir sind aber bewusst, dass wir etwas dafür tun müssen – selbst dann, wenn andere es als „scheiß“ empfinden. Wir tun das für unsere Kinder, ebenso aber auch für alle anderen Kinder und wir tun es auch für die, die uns heute sagten, dass Klimaschutz sie nicht interessiert und Lützerath weg soll.

Daher setzen wir unsere Mahnwachen fort und werden auch 2023 wieder für echten Klimaschutz auf die Straße gehen. Vielleicht schaffen wir es ja, dass die Mutter des kleinen Mädchen Unrecht hat und zumindest die Klimakrise einer guten Zukunft ihrer Tochter nicht im Weg stehen wird. Aus diesem Grund werde ich mit meinen Kindern am 14.1. zur Großdemo nach Lützerath fahren!

Kann man kommunizieren, obwohl jemand gendert?

Über misslungene Argumente zu gelungener Kommunikation

Der VDS – in ausgeschriebener Form ‚Verein für deutsche Sprache‘ – setzt sich sprachpflegerisch für die deutsche Sprache ein. Ein zentrales Anliegen des Vereins ist der Kampf gegen das Gendern. Unter anderem bietet der Verein eine Argumentationshilfe ‚Zwanzig Argumente gegen das Gendern‚ an, auf die ich an anderer Stelle bereits kritisch eingegangen bin. Diesmal möchte ich mir ein weiteres ‚Argument‘ vornehmen und zwar Nummer 7 der Liste:

Gendern ist dysfunktional. Es ist eine Form der misslungenen Kommunikation. Sätze werden mit irrelevanten Informationen überfrachtet. Gendern verliert durch die Fixierung auf den Aspekt Geschlecht die Kernaussage aus dem Blick.

Es lohnt sich genauer auf das ‚Argument‘ einzugehen:

  • Gendern ist eine dysfunktionale Verwendung von Sprache, bei der die Kommunikation misslungen ist.
  • Sätze werden mit irrelevanten Informationen überfrachtet.
  • Durch Gendern verlieren wir die Kernaussage aus dem Blick und es findet eine Fixierung auf das Geschlecht statt.

Misslungene Kommunikation

Wann ist Kommunikation gelungen und wann misslungen? Kommunikation hat verschiedene Funktionen: sie kann zur Übermittlung von Informationen dienen; sie kann zur Erfragung von Informationen dienen; sie kann dazu dienen, dass Mensch einen Auftrag erteilt; sie kann rein sozialen Zwecken – etwa der Festigung sozialer Beziehungen – dienen. Und vieles, vieles mehr. Gelungen ist die Kommunikation dann, wenn das mit der Kommunikation intendierte Ziel erreicht wurde.

Wenn ich mitteilen möchte, dass in einem Verein Menschen Mitglied sind, die keine Ahnung vom Thema gendern haben, dann kann ich das folgendermaßen machen: Die Männer im VDS haben keine Ahnung vom Thema gendern. Mag zutreffen, aber die Äußerung wirft de Frage auf, ob die Frauen im VDS denn Ahnung vom Thema gendern haben. Ich könnte also stattdessen sagen: Die Männer und Frauen im VDS haben keine Ahnung vom Thema gendern. Die Beidnennung – Männer und Frauen – ist eine Form geschlechtergerechter Sprache und im Falle des Beispielsatzes wird die Verwendung der Beidnennung auch – zumindest sehe ich es so – den Tatsachen gerecht.  

Anderes Beispiel: Ich bin der Meinung, dass die Krankenpfleger*innen einen unterbezahlten Job machen. Wer dies liest und weiß, dass ich der Meinung bin, dass Personen, die in der Krankenpflege arbeiten, zu wenig Geld verdienen, hat die kommunikative Absicht dieser Äußerung verstanden. Glaubt jemand ernsthaft, dass Kommunikation misslingt – meine sprachliche Äußerung also gar nicht erst interpretierbar ist – , wenn ich ein Gendersternchen schreibe? Das Gendersternchen ist nach den aktuell geltenden Regeln der amtlichen Rechtschreibung ein Rechtschreibfehler, da dieser Form der wortinternen Interpunktion nicht zugelassen ist [dazu hier mein Kommentar]. Aber sind Rechtschreibfehler – selbst dann, wenn sie absichtlich sind – ein Grund, warum Kommunikation misslingt? Wenn ja, dann sollte folgender Satz niemandem vom VDS stören dürfen, denn er stellt eine misslungene Form der Kommunikation dar: Gändärkritika sind dof.

Wenn durch das Gendern Kommunikation misslingt, dann nur, weil ein Kommunikationsteilnehmer oder eine Kommunikationsteilnehmerin die Kommunikation bewusst scheitern lässt. Kleiner Hinweis: das ist nicht die Person, die gendert.     

Irrelevante Informationen

Wir sind den ganzen Tag immer wieder mit Informationen konfrontiert, die wir als irrelevant einschätzen. Aber, das ist wesentlich, Relevanz ist eine subjektive Einschätzung. Was für die eine relevant ist, ist für den anderen irrelevant. Manche Menschen finden es relevant zu wissen, ob nur Männer oder alle Geschlechter gemeint sind. Haben nur die Männer im VDS keine Ahnung vom Gendern oder auch die Frauen? Betrifft meine Kritik nur einen Teil der VDS-Mitglieder oder alle?

In verschiedenen Studien wurde gezeigt, dass geschlechtergerechte Sprache keine irrelevanten Informationen beisteuert sondern für das Verständnis wichtige Informationen. Frauen fühlen sich nicht immer angesprochen, wenn das ‚generische Maskulinum‘ verwendet wird. Sie müssen dazu nicht bewusst sagen: „Damit bin ich jetzt aber nicht gemeint“. Es reicht, wenn sie zum Beispiel Stellenanzeigen als weniger relevant erachten, nur weil die verwendete Form ein ‚generisches Maskulinum‘ ist. Wenn durch geschlechtergerechte Sprachen sich Frauen weniger ausgeschlossen fühlen – vielleicht nicht alle, aber doch hinreichend viele – , dann sind die damit beigesteuerten Informationen definitiv nicht irrelevant. Oder soll es heißen, dass Frauen weniger relevant sind?

Kernaussage

Ein Satz wie Die Männer im VDS haben keine Ahnung vom Gendern macht eine Aussage über das Subjekt die Männer im VDS. Die Aussage, die über das Subjekt gemacht wird, ist ‚keine Ahnung vom Gendern zu haben‘. Die Kernaussage ändern sich nicht, egal ob eine Beidnennung oder eine Form mit Genderstern oder was auch immer verwendet wird. Wieso sollte irgendwer glauben, dass sich die Bedeutung einer Aussage sofort zu ‚GESCHLECHT‘ ändert, nur weil Frauen explizit mitgenannt werden? Die Männer und Frauen im VDS haben keine Ahnung vom Gendern und Die Angehörig*innen des VDSs haben keine Ahnung vom Gendern bedeuten etwas ganz Ähnliches wie das erste Beispiel, nur ein bisschen mehr. Nämlich das nicht nur die Männer, sondern auch die Frauen im VDS keine Ahnung vom Gendern haben. Kommt das Thema ‚Geschlecht‘ ins Spiel? Ja, denn die Personenreferenz wird eindeutig: nicht nur männliche, auch weibliche Personen sind gemeint. Ändert sich die Kernaussage? Nein! Findet eine Fixierung auf das Geschlecht statt? Nein!

‚Geschlecht‘ ist aber bei Personenreferenz nun einmal ein wichtiger Aspekt, denn es gibt – dies wird auch im VDS niemand leugnen wollen – verschiedene Geschlechter. Dass ‚Geschlecht‘ also durch Gendern thematisch in eine Äußerung beigesteuert wird, ist natürlich. Damit wird ein wichtiger Aspekt der Personenreferenz – Personen haben verschiedene Geschlechter – einfach nur explizit.

Gut gemeinter Hinweis: Fragen die Expert*innen

Gerade zu den Themen ‚Funktionalität‘ und ‚gelungene Kommunikation‘ wäre noch viel zu sagen, klar sollte aber sein: Gendern hat nichts mit gelungener Kommunikation oder gar Dysfunktionalität zu tun, sondern mit Rücksicht über Personen unterschiedlichen Geschlechts. Wenn man Höflichkeit als Teil einer gelungenen Kommunikation ansieht – Unhöflichkeit ist durchaus ein Grund zum Abbruch von Kommunikation – , dann stellt Gendern einen positiven Beitrag zu gelungener Kommunikation dar. Wer gendert, nimmt die Diskriminierungsempfindungen von u.a. Frauen ernst.

Das ‚Dysfunktionalitätsargument‘ des VDS schlägt also fehl. Abschließend möchte ich aber gerne noch einen Hinweis anbringen: Lieber auf die Expertise der Experten hören. Glücklicherweise gibt es zum Thema Sprache Expert*innen: Sprachwissenschaftler*innen. In der Mehrzahl sieht diese den VDS sehr kritisch, Gendern dagegen aber nicht. Das hat Gründe: gute Gründe, die wissenschaftlich motiviert sind. Bevor Mensch also den ‚Argumenten‘ des VDSs traut, wäre eine Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Fachliteratur zu empfehlen.

Nachtrag (30.12.2022): Als Beispiel habe ich oben die Nomen Mann und Frau immer wieder verwendet. Klar, da ist eine Beidnennung nötig, da diese Nomen in ihrer Bedeutung den Bezug auf ein bestimmtes Geschlecht drin haben. Anders sieht es mit Angehörig*innen oder Nomen wie Ärzt*innen, Lehrer*innen, Expert*innen und Sprachwissenschaftler*innen aus. Das oben geschrieben trifft, wie ja auch teilweise gezeigt, auch für diese Nomen zu. Spricht Mensch von Sprachwissenschaftler*innen oder Sprachwissenschaftler und Sprachwissenschaftlerinnen wird deutlich gemacht, dass nicht nur die männlichen Vertreter, sondern eben auch die weibliche Vertreterinnen (und Personen anderen Geschlechts bei der Form mit *) gemeint sind.

Gendern, Sexismus und die Brüder Grimm

Der Verein für deutsche Sprache findet Gendern sexistisch

Kein sprachwissenschaftliches Thema erzielt so viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie die geschlechtergerechte Sprache, die auch gerne unter der Bezeichnung ‚Gendern‘ diskutiert wird. Die öffentliche Diskussion wird leider sehr von Laien dominiert; die Fachwissenschaftler, die sich mit diesem Thema beruflich aus einer ideologiefreien, wissenschaftlichen Perspektive auseinandersetzen, gehen dabei häufig unter.

Einer der wortstarken Meinungsführer, der sich ideologisch gegen das Gendern ausspricht, ist der Verein für deutsche Sprache. Unter anderem hat der Verein einige ‚Argumentationshilfen‘ im Angebot, beispielsweise seine ‚20 Argumente gegen das Gendern‚.

Ich will mich nicht mit allen diesen ‚Argumenten‘ zugleich auseinandersetzen, aber hin und wieder gerne einem von ihnen. Interessant finde ich das vierte ‚Argument‘, das folgendermaßen lautet:

Gendern ist sexistisch, weil es über die Sexualisierung der Sprache Geschlechterdifferenzen zementiert. Weil es Menschen auf ihr Geschlecht reduziert. Weil es die reaktionäre Erzählung von der Frau als ewigem Opfer fortschreibt – und die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter.

In diesem ‚Argument‘ stecken folgende Aussagen:

  • (i) Gendern ist sexistisch, denn Gendern stellt eine Sexualisierung der Sprache dar.
  • (ii) Durch die Sexualisierung der Sprache werden Geschlechterdifferenzen zementiert.
    • (iii) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil Menschen auf ihr Geschlecht reduziert werden.
      • (iv) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die reaktionäre Erzählung von Frauen als ewigem Opfer fortgeführt wird.
        • (v) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter fortgeführt wird.

Sexualisiert das Gendern die Sprache?

Was wird unter Gendern verstanden? Im einfachsten Fall ist damit die Sichtbarmachung von Frauen, etwa in Form einer Beidnennung Idiot und Idiotin gemeint. Zugleich kann aber auch gerade die Nichtfokussierung auf das Geschlecht, durch die Verwendung eines nominalisierten Partizips Lehrende statt Lehrer und Lehrerinnen, erfolgen.

Hinter der Genderthematik steckt selbstverständlich noch sehr viel mehr, insbesondere die Diskussion um das soziale Geschlecht und nicht-Binärität spielen eine wichtige Rolle. Beides klammere ich an dieser Stelle aus, da in dem ‚Argument‘ auch nur verkürzt über Männer und Frauen – also die klassischen binären Geschlechter – gesprochen wird.

Führt also die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen zu einer Sexualisierung der Sprache? Die Antwort ist ganz klar Nein, denn das Deutsche wird dadurch nicht stärker sexualisiert als es vorher schon war. Gerne wird behauptet, dass es keinen Zusammenhang zwischen Genus (einer grammatikalischen Kategorie zur Klassifikation von Nomen) und Sexus (einer biologischen/sozialen Kategorie) gibt. Partiell ist das auch so, denn das Tisch ein maskulines Nomen ist, hat nichts mit dem Geschlecht oder Sexus des Nomens zu tun. Aber zugleich gibt es im Bereich der belebten Natur – relevant sind vor allem Menschen und einige höhere Säugetiere – einen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus. Nomen, die auf männliche Menschen, bzw. Tiere referieren, sind in aller Tendenz Maskulina. Umgekehrt gilt: Nomen, die auf weibliche Menschen und Tiere referieren, sind in der Regel Feminina. Wir können zwar das Nomen Katze (ein Femininum) für die Bezeichnung der Art verwenden (und verwenden das Nomen auch dann, wenn wir das Geschlecht eines Individuums nicht kennen), aber wenn das Geschlecht bekannt ist, wird die feminine Form Katze für die weiblichen Tiere und die maskuline Form Kater für männliche Tiere verwendet.

Alle Nomen, die nicht in den genannten Bereich fallen, sind schlichtweg irrelevant. Das Gabel ein feminines Nomen ist, obwohl Gabeln eindeutig keine Frauen sind, ist egal. Warum? Weil sie kein Geschlecht haben. Die Genuszuweisung erschöpft sich nicht in einer Korrelation zwischen (natürlichem) Geschlecht und Genus, aber dies ist ein Faktor, der das Genus von Nomen mit belebten Referenten determiniert.

Sexualisierte Kindergeschichten

Viele Leute würden sicherlich zustimmen, dass Kindergeschichten ein Platz sind, wo eine Sexualisierung nach Möglichkeit unterbleiben sollte. Viele Menschen lesen ihren Kindern Grimms Märchen vor. Die Grimms haben ihre Märchen systematisch sexualisiert, wie folgendes Beispiel aus ‚Die sechs Schwäne‘ zeigt:

Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, daß er sprach ‚Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt‘, und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.

(Link zum Text)

Zuerst ist das Mädchen, um das es in dem Märchen geht, ein ‚es‘. Die Textpassage fängt damit an, dass mit ihm und es auf das Mädchen Bezug genommen wird. Erst am Ende des Absatzes wird das Mädchen zu einer ’sie‘. Der Wechsel nach ‚es‘ zu ’sie‘ erfolgt in dem Moment, in dem sie begehrt wird und sich jemand mit ihr vermählen will. Orrin Robinson spricht davon, dass bei den Grimms Mädchen zu einer ’sie‘ werden, wenn sie als heiratsfähig und damit als Frau angesehen werden. Wenn das keine Sexualisierung der pronominalen Referenz darstellt, was dann?

Die Grimms haben nicht gegendert, sexualisiert war ihre deutsche Sprache dennoch. Wer sich also gegen eine Sexualisierung der Sprache ausspricht, sollte erst einmal einen Blick in die Sprachgeschichte und den Kanon der Kinderliteratur werfen.

Zementiert das Gendern Geschlechterdifferenzen?

Was sind denn eigentlich Geschlechterdifferenzen? Eines ist klar, Geschlechterdifferenzen sind erst einmal kein sprachwissenschaftliches Phänomen. Dafür aber ein soziologisches und bezieht sich, so würde ich es interpretieren, auf systematische Ungleichheiten bedingt durch das Geschlecht. Als erstes fallen mir da geschlechtsbedingte Unterschiede beim Einkommen ein.

Wer der Meinung ist, dass solche Unterschiede durch das Gendern zementiert werden, soll mir bitte erklären, wie. Warum sollte der diskriminierende Status quo durch die Verwendung geschlechtergerechter Sprache zementiert werden?

Werden Menschen durch Gendern auf ihr Geschlecht reduziert?

Der Gegenvorwurf ist, dass Frauen sprachlich nicht sichtbar sind und häufig nicht mitgemeint sind. Diese Frage berührt ein anderes der 20 ‚Argumente‘ des Vereins für deutsche Sprache, daher möchte ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen. Aber dennoch kurz: eine Ärztin ist nicht einfach ’nur‘ eine Frau, sondern Ärztin und weiblich. Zwei Eigenschaften des Referenten werden ausgesagt, die Profession und das Geschlecht. Eine Reduktion auf das Geschlecht erfolgt aber nicht.

Die reaktionäre Erzählung der Frau als ewigem Opfer und die anachronistische Erzählung des Mannes als ewiger Täter

Reaktionär bedeutet ‚fortschrittsfeindlich‘, wenn also ‚die Erzählung der Frau als ewigem Opfer‘ als „reaktionär“ bezeichnet wird, dann wird diese Erzählung abgewertet. Sie ist dieser Sichtweise nach überholt und gehört vergangenen Zeiten an. Ganz ähnlich die Bedeutung von anachronistisch. Was also gesagt wird ist: die Erzählungen von Frauen als Opfer und Männern als Täter sind überholt und gehören in frühere, überwundene Zeiten. Also gilt beides nicht, in unserer Zeit sind Frauen keine ewigen Opfer und Männer keine ewigen Täter.

Das Bundeskriminalamt führt eine Statistik zu Partnerschaftsgewalt, in der für das Jahr 2021 rund 143000 Delikte geführt werden. Rund 80% der Opfer waren Frauen, fast 80% der Täter Männer! So anachronistisch ist ein Bericht über das Jahr 2021 nicht, oder?

Hat Gewalt gegen Frauen denn nun irgendwas mit Gendern zu tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Frauen wurden sicherlich nicht Opfer von Partnerschafsgewalt, weil sie oder ihre Partner gegendert oder nicht gegendert haben. Gendern wird Partnerschaftsgewalt auch nicht beseitigen. Sprache stellt aber ein Spiegel der Gesellschaft dar und sowenig wie Frauen sprachlich gleichberechtigt sind, sind sie es gesellschaftlich. Nicht die Erzählung von der Frau als Opfer und dem Mann als Täter ist anachronistisch, sondern das Leugnen der sprachlichen und gesellschaftlichen Geschlechterdiskriminierung.      

Der Verein für deutsche Sprache stellt mit seinem Sexismusvorwurf die sprachliche Realität auf den Kopf. Nicht das Gendern ist sexistisch, sondern die Argumentation des Vereins für deutsche Sprache.

Hier noch die Literaturangabe zu dem sehr spannenden Buch von Robinson: Orrin Robinson. 2010. Grimm Language. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins. Ich möchte aber auch Damaris Nüblings Text Genus und Geschlecht empfehlen, der das Thema gut verständlich behandelt und dem ich unter anderem den Hinweis auf Robinsons Buch und die Brüder Grimm verdanke.

Nachtrag: Die 20 Argumente gegen das Gendern, auf die sich der VDS bezieht, stammen aus dem Buch ‚Von Menschen und Mensch*innen‘ geschrieben von F. Payr.

Genderideologie der CDU

Geschlechtergerechte Sprache, gesetzliche Festellungen und Laienlinguisten

Christoph Ploß – Mitglied des deutschen Bundestages für die CDU – fordert, dass es an deutschen Schulen und Universitäten keinen Genderzwang geben darf. In einem Redebeitrag im Bundestag spricht er davon, dass Schüler*innen und Studierende – die gegenderte Form stammt nicht von ihm – bei Prüfungen Angst haben müssten, wenn sie nicht in ‚Gendersprache‘ ihre Prüfungen schreiben [hier ein Video des Beitrags bei Twitter]. Als Konsequenz fordert er, dass es eine gesetzliche Klarstellung darüber dass an deutschen Schulen die deutsche Grammatik gilt und nicht eine ‚ideologische Gendersprache‘ geben muss.

Von welchen Fällen redet er? In welchen Fällen müssen Schüler*innen und Studierende Angst haben, wenn sie nicht gendern? Ich will nicht in Abrede stellen, dass es vielleicht den ein oder anderen Dozierenden gibt, der oder die gegenderte Personenbezeichnungen gerne verwendet sehen möchte. Vielleicht mag es auch Prüfende geben, die das Nichtverwenden geschlechtergerechter Sprache bei der Korrektur berücksichtigen. Aber wenn, dann sind dies Einzelfälle. Von hypothetischen Einzelfällen ausgehend – hypothetisch, da mir keine belegten Fälle bekannt sind – eine gesetzliche Regelung fordern, ist dann doch mehr als übertrieben.

Wer schreibt die Rechtschreibung vor?

Aber was wäre gesetzlich eigentlich möglich? Die amtliche deutsche Rechtschreibung wird durch den Rechtschreibrat (korrekt: Rat für deutsche Rechtschreibung) festgelegt. Wie auf der Seite des Rats nachzulesen ist, ist dieser ein zwischenstaatliches Gremium, das unter anderem mit der Weiterentwicklung der Orthographie betraut ist. Dem Rat gehören 41 Mitglieder an, die aus der Wissenschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen stammen.

Das aktuelle amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung ist online hier abzurufen. Im Vorwort steht zu lesen, welchen Geltungsbereich das Regelwerk überhaupt hat. Dieser ist sehr eingeschränkt, nämlich diejenigen Institutionen, für die der Staat hinsichtlich der Rechtschreibung Regelungskompetenz besitzt. Das sind Schulen, Verwaltung und Rechtspflege. Firmen, Druckereien, Verlage, Privatpersonen sind davon nicht erfasst und kÖnnen schraiben wia sia wolen. Was ist mit Universitäten? Hier sieht der wissenschaftliche Dienst des Bundestags einen Graubereich, bedingt durch die Wissenschaftsfreiheit. Mir scheint es so zu sein, dass nach Einschätzung des Dienstes die Regelungskompetenz des Bundes hier nicht unbedingt gilt. Der Rechtschreibrat scheint anderer Meinung zu sein und schreibt:

„Für den Hochschulbereich erscheint fraglich, ob die Forderung einer „gegenderten Schreibung“ in systematischer Abweichung vom Amtlichen Regelwerk der deutschen Rechtschreibung für schriftliche Leistungen der Studierenden und die Berücksichtigung „gegenderter Schreibung“ bei deren Bewertung durch Lehrende von der Wissenschafts-freiheit der Lehrenden und der Hochschulen gedeckt ist.“    

(Geschlechtergerechte Schreibung; Seite 1)

Im Rahmen der Regelungskompetenz gilt also die amtliche deutsche Rechtschreibung, aber eben nur in diesem Rahmen. Was sagt denn die amtliche deutsche Rechtsschreibung zu geschlechtergerechter Sprache? Nichts konkretes. Es gibt aber eine klare Empfehlung des Rechtschreibrats, die besagt, dass „allen Menschen mit geschlechtergerechter Sprache begegnet werden soll und sie sensibel angesprochen werden sollen“ (Quelle). Die unterschiedlichen Mittel zum Ausdruck geschlechtergerechter Sprache, z.B. Asterisk Schüler*innen, Unterstrich Schüler_innen, Doppelpunkt Schüler:innen, usw. sind nicht in das Regelwerk aufgenommen worden. Warum nicht? Auch hier hat der Rechtschreibrat eine nachvollziehbare Position und schreibt: „Dies [gemeint ist, die Verwendung geschlechtergerechter Sprache] ist allerdings eine gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Aufgabe, die nicht allein mit orthografischen Regeln und Änderungen der Rechtschreibung gelöst werden kann“.

Bezüglich der konkreten Verwendung geschlechtergerechter Sprache stellt der Rechtschreibrat nachvollziehbare Forderungen, die durch Formen wie Schüler*innen nur bedingt erfüllt werden. Dazu gehört u.a. (Vor-)Lesbarkeit, Rechtssicherheit, Übersetzbarkeit. Damit ist das Thema aber nicht beendet, denn der Rechtschreibrat ist sich seiner Verantwortung bewusst und schreibt:

„Dazu gilt es, die Entwicklung des Schreibgebrauchs aufgrund der Beobachtung der geschriebenen Sprache durch Empfehlungen oder möglicherweise Regeln so zu beeinflussen, dass er den Vorstellun-gen und Gewohnheiten einer Mehrheit der Schreiberinnen und Schreiber entspricht, aber gleichzeitig die fundierte sprachwissenschaftliche Verankerung besitzt, die vom Rat seinem öffentlichen Auftrag entsprechend erwartet wird.“

(Geschlechtergerechte Schreibung seit 2018; Seite 5)

Aktuell wären damit geschriebene Formen wie Schüler*innen ein Verstoß gegen die orthografische Norm. Daher muss Herr Ploß gar nicht fordern, dass an den Schulen die Verwendung des Gendersterns verboten werden sollte. Die amtliche deutsche Rechtschreibung, die für Schulen gilt, setzt das Gendersternchen sowieso außerhalb der Norm.

Normen heute müssen nicht die Normen morgen sein

Herr Ploß kann also beruhigt sein, kein Kind muss gendergerechte Sprache in der Schule verwenden. Aber – der Rechtschreibrat sagt es deutlich – , der Sprachgebrauch soll beobachtet und die Rechtschreibregeln eventuell angepasst werden. Legt der Sprachgebrauch eine Akzeptanz der Formen nahe, wird sich der Rechtschreibrat in der Notwendigkeit sehen, dies auch in den Rechtschreibregeln zu kodifizieren. Eigentlich totla demorkatisch, wenn dem Volk so auf’s Maul (oder auf die Schreibung) geschaut wird.

Sprache ist sowieso eine ziemliche demokratische Sache, denn sie gehört niemandem. Sprecher*innen verwenden Sprache so, wie sie es mögen. Das können sie machen, denn wer will es ihnen verbieten? Sprache passt sich im Gebrauch den Bedürfnissen der Sprecher an. Wer das verkennt, verkennt ein wesentliches Element von Sprache: sie ist nicht starr, sondern dynamisch. Wie jeder Studierende im ersten Semester lernt: Sprache verändert sich. Nur tote Sprachen verändern sich nicht mehr.

Sprache ist auf eine gewisse Weise aber auch entblößend. Durch die eigene Sprachverwendung sagt Sprecher*in einiges über das eigene Weltbild aus. Sprecher, die auf geschlechtergerechte Sprache achten, zeigen, dass ihnen dieses Thema wichtig ist. Dass es ihnen auch wichtig ist, keine Person auf Grund des Geschlechts auszugrenzen oder zu diskriminieren. Sprecher*innen, die keine geschlechtergerechte Sprache verwenden, zeigen, dass ihnen dies nicht wichtig ist. Demokratisch ist, dass Sprecher*innen wählen können, entblößend ist, dass sie durch ihre Wahl ihre Weltsicht offenlegen.

Grammatik ist nicht gleich Rechtschreibung

Herr Ploß spricht davon, dass an deutschen Schulen die deutsche Grammatik gelten soll. Er spricht nicht von deutscher Rechtschreibung, sondern von Grammatik. Die Rechtschreibregeln, die der Rechtschreibrat festlegt, regeln die Zuordnung von Lauten zu Buchstaben, die Getrennt- und Zusammenschreibung, Verwendung von Bindestrichen, Groß- und Kleinschreibung, Zeichensetzung und Worttrennung. Geregelt ist der Bereich der RechtSCHREIBUNG. Die Grammatik der deutschen Sprache ist davon nicht betroffen. Für diese gibt es auch kein Norminstanz, die sagt, dies ist ein Verstoß gegen eine offizielle Grammatikregel. Eine solche Regel könnte etwa sein, dass das Komparandum bei Komparativen mit als und nicht mit wie eingeleitet wird (Mein Hund ist größer als mein Goldfisch und nicht Mein Hund ist größer wie mein Goldfisch). Eine amtliche deutsche Grammatik gibt es aber nicht.

Die Gleichsetzung von Orthografie und Grammatik ist ein häufiger laienlinguistischer Fehler. Laienlinguistik ist hier das wichtige Stichwort.

Genderideologie

Unter einer Ideologie wird ein in der Regel recht starres Weltanschauungssystem. Verfechter geschlechtergerechter Sprache werden gerne als „Genderideologen“, so auch Herr Ploß, bezeichnet. Umgekehrt lässt sich aber treffend sagen, dass die eigentlichen Genderideologen diejenigen sind, die geschlechtergerechte Sprache mit aller Vehemenz bekämpfen. Sie wollen, dass Menschen sich einer bestimmten Sprachnorm fügen. Sie wollen, dass Sprache sich nicht wandelt, sondern sprachlich ein konservatives Wertesystem reflektiert wird. Die christliche Familienideologie – zwei Geschlechter und der Mann ist der Chef der Familie – unterliegt dem Sprachsystem, das mit aller Vehemenz verteidigt werden soll. Welche Argumente werden dafür hervorgebracht? Ehrlich gesagt sind die Argumente zweifelhaft und in aller Regel vor allem eines, nämlich nicht sprachwissenschaftlich. Solche „Argumente“ finden sich etwa auf den Seiten des Vereins für deutsche Sprache. Unter anderem heißt es, dass ‚Gendern unwissenschaftlich sei‘, wobei Jahrzehnte sprachwissenschaftlicher Forschung zu dieser Thematik geflissentlich ignoriert werden. Auch die Idee, dass ‚Gendern grundgesetzwidrig sei‘, kann durch nichts gedeckt werden. Diese Argumente stammen in aller Regel von Laienlinguisten, was auch sehr gut erklärt, warum sie keine linguistischen Argumente sind.

Wenn mir mein 80jähriger Nachbar rät, dass ich mir ein totes Eichhörnchen um die Brust binden sollte, wenn ich keine Luft kriege, sollte ich das tun? Mein Nachbar könnte sich darauf berufen, dass er Laienpneumologe ist, da er seit 80 Jahren erfolgreich atmet. Aber ganz ehrlich, reicht das? Ich würde dann doch lieber einen echten Pneumologen aufsuchen und meine Atemprobleme vom Experten behandeln lassen. Warum sollte wir dann den Laienlinguisten in Bezug auf geschlechtergerechte Sprache vertrauen? Nur weil sie sprechen können? Die Fähigkeit grammatikalisch wohlgeformte Sätze zu bilden macht niemanden zu einem Linguisten.

Abschließend eine Bitte an Herr Ploß und andere Politiker, die sich mit Sprache beschäftigen wollen: Wissenschaft ist keine Ideologie, sondern liefert intersubjektiv nachvollziehbare Daten und deren Interpretation. Vertrauen Sie also denen, die Ahnung haben und nicht dem schrulligen Nachbarn, der nicht mehr vorweisen kann als schon Jahrzehnte erfolgreich gesprochen zu haben.

Abschließender Hinweis: Wer glaubt, dass das Gendern unwissenschaftlich sei, sollte einmal das Einführungsbuch Genderlinguistik von Damaris Nübling & Helge Kotthoff (Narr Verlag) lesen.

P.S. Wann sprechen wir eigentlich von Rechtschreibfehlern und wann bewegen wir uns im recht(schreib)freien Raum? Wie auch immer: Dies ist kein Text aus Schule, Verwaltung oder Rechtspflege, daher steht er eigentlich außerhalb des Zwangs der amtlichen deutschen Rächtsschraibung.

Wer steht mir da im Weg herum? Und warum?

Über Blockaden von Autos und Blockaden mit Autos

Die ‚Letzte Generation’‘‘ hat mit ihren Aktionen eine breite Öffentlichkeit erreicht. Insbesondere die Straßenblockaden haben ein großes mediales Echo gefunden. Aber nicht nur das, auch politisch wird gehandelt. Politiker erklären die Aktivisten der ‚Letzten Generation‘ zu Kriminellen. Der RND berichtet über entsprechende Äußerungen von Friedrich Merz. Und juristisch wird gegen sie wegen der möglichen Bildung einer kriminellen Vereinigung vorgegangen (z.B. im Spiegel oder auf N-TV).  

In den sozialen Medien gibt es zahlreiche Videos der friedlichen Proteste, unter anderem dieses hier. Auf diesem Video ist aber auch zu sehen, wie die Autofahrer, die durch die Aktivisten blockiert werden, reagieren. Nicht gerade sanft werden die Aktivisten von der Straße gezerrt, beschimpft und eingeschüchtert. Worüber regen sich die Autofahrer auf? Darüber, dass sie im Stau stehen müssen.

Auf dem verlinkten Video sieht man einen Paketboten bei der ‚Entfernung‘ von Aktivisten von der Straße. Paketboten bieten sich als Diskussionsobjekt gut an. Sie haben ziemlichen Zeitdruck und müssen, damit sie Geld verdienen, herumfahren. Im Stau stehen ist für Paketboten definitiv ein finanzieller oder zumindest zeitlicher Verlust.

Als ich eben meinen ältesten Sohn von der Schule abholte, parkte ein Paketbote mitten auf einem Fußgängerüberweg und lieferte Pakete aus. Dadurch stand er nicht nur den Fußgängern mitten im Weg, sondern blockierte auch vollkommen die Sicht. Die ganze Angelegenheit dauert rund 5 Minuten. Wie hätte der Paketbote reagiert, wenn ihn nun jemand gebeten hätte wegzufahren? Vielleicht sogar mit der Begründung, dass er ja mitten im Weg steht? Ein paar Mal hatte ich eine solche Diskussion, die Antwort war immer, dass er ja nur kurz etwas ausliefern müsse. Einsicht, dass dies für Fußgänger – insbesondere Kinder – gefährlich sein kann? Nein! Einsicht, dass man nicht einfach so die Straßenseite wechseln kann – mit Kindern –, weil auf der anderen Straßenseite alles vollgeparkt ist? Nein!

Gelegentlich halten die Paketboten mitten auf unserer einspurigen Straße und liefern in Ruhe ihre Pakete aus. Nachkommende Autos müssen sich gedulden. Und wie häufig werden Radwege blockiert? Zwar ist der Übeltäter diesmal kein Paketbote, aber in einer Nachbarstraße ist jeden Morgen (am Wochenende ganztägig) der Fußweg mit einem Auto vollgestellt. Dass am Ende der Straße eine KITA ist und einige Kinder diesen Weg zu Fuß meistern müssen, ist dem Fahrer egal.      

Warum empören sich Autofahrer darüber, dass einzelne (!) Straßen blockiert werden, aber nicht darüber, dass andere Autofahrer Fuß- und Radwege blockieren? Warum empören sich so viele darüber, dass sie blockiert werden, obwohl sie selbst blockieren? Die ‚Letzte Generation‘ setzt sich nicht aus Spaß auf die Straße, sondern um ein Anliegen zu transportieren. Ihnen geht es darum deutlich zu machen, dass wir uns in einer Klimakrise befinden, die entsprechendes Handeln seitens aller (!) erfordert. Ihre Aktionen sind also Klimaprotest. Dieser Protest ist mit den Forderungen der ‚Letzten Generation‘ eng verbunden. So heißt es auf der Homepage der Gruppe: „Im Angesicht des Klimakollaps brauchen wir jetzt ein Tempolimit von 100 km/h auf deutschen Autobahnen und ein dauerhaftes 9-Euro-Ticket“. Sie fordern also verkehrspolitische Maßnahmen. Der Protest auf der Straße – im wörtlichen Sinne – liegt somit auf der Hand.   

Und die Autofahrer, die auf Rad- und Fußwegen parken, die Straßen blockieren? Warum machen die das? Haben sie ein Anliegen? Bestimmt haben sie eines. Aber keines, das als ‚Protest‘ bezeichnet werden kann. Die medialen Reaktionen zeigen, dass es einen enormen Unterschied macht, ob man Autos blockiert oder mit Autos blockiert. Ersteres ist empörenswert – selbst wenn es als Klimaprotest ein wichtiges Anliegen verfolgt –, letzteres ist anscheinend das Recht zumindest einiger Autofahrer.