Gendern, Sexismus und die Brüder Grimm

Der Verein für deutsche Sprache findet Gendern sexistisch

Kein sprachwissenschaftliches Thema erzielt so viel Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit wie die geschlechtergerechte Sprache, die auch gerne unter der Bezeichnung ‚Gendern‘ diskutiert wird. Die öffentliche Diskussion wird leider sehr von Laien dominiert; die Fachwissenschaftler, die sich mit diesem Thema beruflich aus einer ideologiefreien, wissenschaftlichen Perspektive auseinandersetzen, gehen dabei häufig unter.

Einer der wortstarken Meinungsführer, der sich ideologisch gegen das Gendern ausspricht, ist der Verein für deutsche Sprache. Unter anderem hat der Verein einige ‚Argumentationshilfen‘ im Angebot, beispielsweise seine ‚20 Argumente gegen das Gendern‚.

Ich will mich nicht mit allen diesen ‚Argumenten‘ zugleich auseinandersetzen, aber hin und wieder gerne einem von ihnen. Interessant finde ich das vierte ‚Argument‘, das folgendermaßen lautet:

Gendern ist sexistisch, weil es über die Sexualisierung der Sprache Geschlechterdifferenzen zementiert. Weil es Menschen auf ihr Geschlecht reduziert. Weil es die reaktionäre Erzählung von der Frau als ewigem Opfer fortschreibt – und die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter.

In diesem ‚Argument‘ stecken folgende Aussagen:

  • (i) Gendern ist sexistisch, denn Gendern stellt eine Sexualisierung der Sprache dar.
  • (ii) Durch die Sexualisierung der Sprache werden Geschlechterdifferenzen zementiert.
    • (iii) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil Menschen auf ihr Geschlecht reduziert werden.
      • (iv) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die reaktionäre Erzählung von Frauen als ewigem Opfer fortgeführt wird.
        • (v) Geschlechterdifferenzen werden zementiert, weil die anachronistische Erzählung vom Mann als ewigem Täter fortgeführt wird.

Sexualisiert das Gendern die Sprache?

Was wird unter Gendern verstanden? Im einfachsten Fall ist damit die Sichtbarmachung von Frauen, etwa in Form einer Beidnennung Idiot und Idiotin gemeint. Zugleich kann aber auch gerade die Nichtfokussierung auf das Geschlecht, durch die Verwendung eines nominalisierten Partizips Lehrende statt Lehrer und Lehrerinnen, erfolgen.

Hinter der Genderthematik steckt selbstverständlich noch sehr viel mehr, insbesondere die Diskussion um das soziale Geschlecht und nicht-Binärität spielen eine wichtige Rolle. Beides klammere ich an dieser Stelle aus, da in dem ‚Argument‘ auch nur verkürzt über Männer und Frauen – also die klassischen binären Geschlechter – gesprochen wird.

Führt also die sprachliche Sichtbarmachung von Frauen zu einer Sexualisierung der Sprache? Die Antwort ist ganz klar Nein, denn das Deutsche wird dadurch nicht stärker sexualisiert als es vorher schon war. Gerne wird behauptet, dass es keinen Zusammenhang zwischen Genus (einer grammatikalischen Kategorie zur Klassifikation von Nomen) und Sexus (einer biologischen/sozialen Kategorie) gibt. Partiell ist das auch so, denn das Tisch ein maskulines Nomen ist, hat nichts mit dem Geschlecht oder Sexus des Nomens zu tun. Aber zugleich gibt es im Bereich der belebten Natur – relevant sind vor allem Menschen und einige höhere Säugetiere – einen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus. Nomen, die auf männliche Menschen, bzw. Tiere referieren, sind in aller Tendenz Maskulina. Umgekehrt gilt: Nomen, die auf weibliche Menschen und Tiere referieren, sind in der Regel Feminina. Wir können zwar das Nomen Katze (ein Femininum) für die Bezeichnung der Art verwenden (und verwenden das Nomen auch dann, wenn wir das Geschlecht eines Individuums nicht kennen), aber wenn das Geschlecht bekannt ist, wird die feminine Form Katze für die weiblichen Tiere und die maskuline Form Kater für männliche Tiere verwendet.

Alle Nomen, die nicht in den genannten Bereich fallen, sind schlichtweg irrelevant. Das Gabel ein feminines Nomen ist, obwohl Gabeln eindeutig keine Frauen sind, ist egal. Warum? Weil sie kein Geschlecht haben. Die Genuszuweisung erschöpft sich nicht in einer Korrelation zwischen (natürlichem) Geschlecht und Genus, aber dies ist ein Faktor, der das Genus von Nomen mit belebten Referenten determiniert.

Sexualisierte Kindergeschichten

Viele Leute würden sicherlich zustimmen, dass Kindergeschichten ein Platz sind, wo eine Sexualisierung nach Möglichkeit unterbleiben sollte. Viele Menschen lesen ihren Kindern Grimms Märchen vor. Die Grimms haben ihre Märchen systematisch sexualisiert, wie folgendes Beispiel aus ‚Die sechs Schwäne‘ zeigt:

Er tat ihm seinen Mantel um, nahm es vor sich aufs Pferd und brachte es in sein Schloß. Da ließ er ihm reiche Kleider antun, und es strahlte in seiner Schönheit wie der helle Tag, aber es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Er setzte es bei Tisch an seine Seite, und seine bescheidenen Mienen und seine Sittsamkeit gefielen ihm so sehr, daß er sprach ‚Diese begehre ich zu heiraten und keine andere auf der Welt‘, und nach einigen Tagen vermählte er sich mit ihr.

(Link zum Text)

Zuerst ist das Mädchen, um das es in dem Märchen geht, ein ‚es‘. Die Textpassage fängt damit an, dass mit ihm und es auf das Mädchen Bezug genommen wird. Erst am Ende des Absatzes wird das Mädchen zu einer ’sie‘. Der Wechsel nach ‚es‘ zu ’sie‘ erfolgt in dem Moment, in dem sie begehrt wird und sich jemand mit ihr vermählen will. Orrin Robinson spricht davon, dass bei den Grimms Mädchen zu einer ’sie‘ werden, wenn sie als heiratsfähig und damit als Frau angesehen werden. Wenn das keine Sexualisierung der pronominalen Referenz darstellt, was dann?

Die Grimms haben nicht gegendert, sexualisiert war ihre deutsche Sprache dennoch. Wer sich also gegen eine Sexualisierung der Sprache ausspricht, sollte erst einmal einen Blick in die Sprachgeschichte und den Kanon der Kinderliteratur werfen.

Zementiert das Gendern Geschlechterdifferenzen?

Was sind denn eigentlich Geschlechterdifferenzen? Eines ist klar, Geschlechterdifferenzen sind erst einmal kein sprachwissenschaftliches Phänomen. Dafür aber ein soziologisches und bezieht sich, so würde ich es interpretieren, auf systematische Ungleichheiten bedingt durch das Geschlecht. Als erstes fallen mir da geschlechtsbedingte Unterschiede beim Einkommen ein.

Wer der Meinung ist, dass solche Unterschiede durch das Gendern zementiert werden, soll mir bitte erklären, wie. Warum sollte der diskriminierende Status quo durch die Verwendung geschlechtergerechter Sprache zementiert werden?

Werden Menschen durch Gendern auf ihr Geschlecht reduziert?

Der Gegenvorwurf ist, dass Frauen sprachlich nicht sichtbar sind und häufig nicht mitgemeint sind. Diese Frage berührt ein anderes der 20 ‚Argumente‘ des Vereins für deutsche Sprache, daher möchte ich an dieser Stelle nicht weiter darauf eingehen. Aber dennoch kurz: eine Ärztin ist nicht einfach ’nur‘ eine Frau, sondern Ärztin und weiblich. Zwei Eigenschaften des Referenten werden ausgesagt, die Profession und das Geschlecht. Eine Reduktion auf das Geschlecht erfolgt aber nicht.

Die reaktionäre Erzählung der Frau als ewigem Opfer und die anachronistische Erzählung des Mannes als ewiger Täter

Reaktionär bedeutet ‚fortschrittsfeindlich‘, wenn also ‚die Erzählung der Frau als ewigem Opfer‘ als „reaktionär“ bezeichnet wird, dann wird diese Erzählung abgewertet. Sie ist dieser Sichtweise nach überholt und gehört vergangenen Zeiten an. Ganz ähnlich die Bedeutung von anachronistisch. Was also gesagt wird ist: die Erzählungen von Frauen als Opfer und Männern als Täter sind überholt und gehören in frühere, überwundene Zeiten. Also gilt beides nicht, in unserer Zeit sind Frauen keine ewigen Opfer und Männer keine ewigen Täter.

Das Bundeskriminalamt führt eine Statistik zu Partnerschaftsgewalt, in der für das Jahr 2021 rund 143000 Delikte geführt werden. Rund 80% der Opfer waren Frauen, fast 80% der Täter Männer! So anachronistisch ist ein Bericht über das Jahr 2021 nicht, oder?

Hat Gewalt gegen Frauen denn nun irgendwas mit Gendern zu tun? Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Die Frauen wurden sicherlich nicht Opfer von Partnerschafsgewalt, weil sie oder ihre Partner gegendert oder nicht gegendert haben. Gendern wird Partnerschaftsgewalt auch nicht beseitigen. Sprache stellt aber ein Spiegel der Gesellschaft dar und sowenig wie Frauen sprachlich gleichberechtigt sind, sind sie es gesellschaftlich. Nicht die Erzählung von der Frau als Opfer und dem Mann als Täter ist anachronistisch, sondern das Leugnen der sprachlichen und gesellschaftlichen Geschlechterdiskriminierung.      

Der Verein für deutsche Sprache stellt mit seinem Sexismusvorwurf die sprachliche Realität auf den Kopf. Nicht das Gendern ist sexistisch, sondern die Argumentation des Vereins für deutsche Sprache.

Hier noch die Literaturangabe zu dem sehr spannenden Buch von Robinson: Orrin Robinson. 2010. Grimm Language. Amsterdam/ Philadelphia: John Benjamins. Ich möchte aber auch Damaris Nüblings Text Genus und Geschlecht empfehlen, der das Thema gut verständlich behandelt und dem ich unter anderem den Hinweis auf Robinsons Buch und die Brüder Grimm verdanke.

Nachtrag: Die 20 Argumente gegen das Gendern, auf die sich der VDS bezieht, stammen aus dem Buch ‚Von Menschen und Mensch*innen‘ geschrieben von F. Payr.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert