Archiv für den Monat: Oktober 2024

Studenten, Studenten*innen oder Studierende?

Kant, Goethe und die Genderlinguistik

Geschlechtergerechte Sprache kann unterschiedlich realisiert werden. Eine Form ist die Beidnennung – Studenten und Studentinnen – , die für viele geläufig, in Bayern aber trotzdem gerade nicht sehr gebliebt ist. Jedenfalls will die bayerische Regierung den übermäßigen Gebrauch der Beidnennung (oder auch Paarform) eindämmen [ein Bericht dazu hier]. Ein solcher Schritt bringt eigene Probleme mit sich, u.a. das der Quantifizierung eines ‚übermäßigen Gebrauchs‘.

Neben der Beidnennung gibt es noch den Genderstern (Student*innen), der aber auch in Bayern unerwünscht und ansonsten auch von einigen Menschen abgelehnt wird. Eine andere Möglichkeit wäre die Verwendung eines Partizips [konkret nominalisiertes Partizip I]. Statt irgendeine von Student abgeleitete Form, würde dann das Partizip Studierende als Grundform dienen. Lediglich am Artikel wäre erkennbar, ob es sich um einen männlichen Studierenden oder eine weibliche Studierende handelt. (Die Frage der Sichtbarmachtung nicht-binärer Geschlechter klammern wir hier einmal aus.) Im Plural weist das Deutsche sowieso keine Genusunterscheidung auf, da hätten wir die Form die Studierenden. So far, so good. Aber diese Form wird auch kritisiert.

Auf der Seite ‚Journalismus & Sprache‚ wird vom Missbrauch des Partizips gesprochen. Dabei wird suggeriert, dass die Verwendung einer Form wie Studierende als Ausdruck der ‚Gendersprache‘ diene. Auch weitere Autor*innen führen das Partizip als ‚Gendertechnik‘ an. Aber die Verwendung dieser Formen ist schon viel älter als die ‚Gendersprache‘. Dazu ein kurzer Exkurs.

Immanuel Kant ist ohne Frage einer der bedeutendsten deutschen Philosophen. Wer Kant gelesen hat, wird ihn sicherlich nicht als besonders leserlichen Autoren bezeichnen wollen. Aber Kant war sicher im Deutsch seiner Zeit versiert. Kant lebte von 1724 bis 1804, somit also hauptsächlich im 18. Jahrhundert. Die ‚Gendersprache‘ ist mehr als 150 Jahre nach Kants Tod erst aufgekommen. Damit steht Kant sicherlich nicht im Verdacht, dass er in seinen Texten gegendert hat. Als Kant lebte, waren Frauen das Studieren nicht erlaubt. Das Bonner Kant-Korpus erlaubt es Texte Kants elektronisch zu durchsuchen, neben seinen Werken auch seine Briefwechsel. Eine einfache Suchanfrage bringt einige Belege für Studierende zu Tage:

Die Zahl der reichen Studierenden vermehrt sich sehr. (Briefwechsel, Brief 301, Von Ludwig Heinrich Iakob; 1787)

Ich erkenne die Empfehlungen der von Riga hieher geschickten Studierenden als eine Verbindlichkeit die mir auferlegt ist von ihrem Betragen Rechenschaft oder Nachricht abzustatten […] (Kant: Briefwechsel, Brief 13, An Iohann Gotthelf Lindner; 1759)

Das Partizip Studierende wurde also schon vor über 200 Jahren verwendet. Es ist keine Form, die erst durch die ‚Gendersprache‘ aufkam. In der Form hat dies natürlich auch niemand – soweit ich weiß – behauptet. Aber dennoch spielt der Umstand, dass die Form Studierende schon über 200 Jahre existiert, im weiteren Verlauf eine Rolle. Aber alleine daraus ist natürlich nicht ihre Verwendung als ‚Gendertechnik‘ legitimiert.

Ein Kritikpunkt an der Verwendung der Partizipien ist, dass sie angeblich Nominalisierungen darstellen, die Personen bezeichnen, die eine spezifische Handlung aktuell ausführen. Auf der schon genannten Seite ‚Journalismus & Sprache‘ heißt es: „Das substantivierte Partizip Präsens bezeichnet jemanden, der gerade etwas Bestimmtes tut.“ Die Idee ist, dass das Partizip I Gleichzeitigkeit ausdrückt. Studierenden sollen nur dann Studierende sein, wenn sie auch studieren. Aber der oder die Vorsitzende einer Partei ist auch dann Vorsitzende(r), wenn er oder sie gerade nicht der Partei vorsitzt, sondern im Urlaub ist. Wenn dies für den oder die Vorsitzende gilt, dann kann dies auch für die Studierenden gelten. Wir können nun überlegen, ob die reichen Studierenden, von denen in dem ersten Zitat oben die Rede ist, eigentlich tatsächlich studiert haben oder nicht. Eine müßige Frage und, wie ich finde, ziemlich unerheblich. Aber wir finden bei Goethe einen Textbeleg, der sich auf einen Studierenden bezieht, der aktuell nicht studiert:

Wetzlar an der Lahn hin, das liebliche Tal hinauf; solche Wanderungen machten wieder mein größtes Glück. Ich erfand, verknüpfte, arbeitete durch, und war in der Stille mit mir selbst heiter und froh; ich legte mir zurecht, was die ewig widersprechende Welt mir ungeschickt und verworren aufgedrungen hatte. Am Ziele meines Weges angelangt, suchte ich Höpfners Wohnung und pochte an seine Studierstube. Als er mir „Herein!“ gerufen hatte, trat ich bescheidentlich vor ihn, als ein Studierender, der von Akademien sich nach Hause verfügen und unterwegs die würdigsten Männer wollte kennen lernen. [HK3/B41.00001 Goethe, Johann Wolfgang: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit: Dritter Teil, Entstanden: 1812-1813 – Berlin: DIRECTMEDIA Publishing GmbH, 2000, S. 449-74 [S. 547]]

Goethe ist nun nicht Kant, also nicht so ein Philosoph, sondern ein noch heute bedeutender Literat. Im Fazit bleibt damit festzustellen, dass die Aufregung über die Verwendung der Partizipien zur Bezeichnung von Personen mehr als übertrieben ist. ‚Journalismus & Sprache‘ treibt diese Aufregung auf den Höhepunkt. Bezüglich einer Nachrichtenmeldung mit dem Titel ‚Polizei kontrolliert Radfahrende‘ heißt es, dass dies nur möglich sei, wenn die Polizei die Radfahrer während des Fahrens kontrolliert hätte. Aber ob Menschen diese enge Interpretation wirklich haben? Oder kommt mensch zu dieser Interpretation nur, weil er oder sie diese Erwartung hat?

Fabian Bross berichtet die Ergebnisse einer Untersuchung bezüglich der Interpretation nominalisierter Partizip I-Formen. Das Resultat ist: je frequenter einer Form – also je häufiger sie vorkommt –, desto weniger empfinden Menschen ihr Vorkommen als widersprüchlich, wenn sie in einem Kontext gebraucht werden, der Gleichzeitigkeit ausschließt. Ad hoc-Bildungen (Rollerskatende) werden eher als Gleichzeitig – also zur Bezeichnung von Personen, die die Handlung aktuell ausführen – interpretiert als Formen wie Studierende. Was könnten wir daraus ableiten? Gebrauchen wir die Partizipien häufiger, verfestigt sich das Muster und die Formen verlieren den Gleichzeitigkeitsbezug. Das ist ein nicht gesteuerter Sprachwandel, denn wir können die Entstehung solcher Formen schon seit längerem beobachten. Vorsitzende ist da ein schönes und bereits klar lexikalisiertes Beispiel.

Es gibt also lexikalisierte nominalisierte Partizipien und solche, die nicht lexikalisiert sein. Aber das bedeutet nicht, dass die Verwendung der Partizipien verworfen werden muss, denn die Lexikalisierung der Formen ist ein Prozess, der ganz unabhängig von der ‚Gendersprache‘ erfolgt. Die Verwendung nominalisierter Partizipien ist somit eine ganz normale Bezeichnungsstrategie im Deutschen, die keinem ‚Genderwahn‘ entsprungen ist.


Quellenangabe: Bross, Fabian. 2023. Von biertrinkenden Studierenden, schlafenden Lachenden und gendersensibler Sprache: Zur Interpretation der Gleichzeitigkeit nominalisierter Partizipien. Sprachreport 39 (3): 40-44,